Carl Runge (1856-1927)
Carl David Tolmé Runge wurde am 30.08.1856 in Bremen geboren und starb am 03.01.1927 in Göttingen. Das in München 1876 begonnene Studium der Mathematik und Physik setzte er Ende 1877 in Berlin fort, das zu dieser Zeit unter Weierstraß und Kronecker als Zentrum der mathematischen Wissenschaft in Deutschland galt. In Berlin promovierte Runge 1880 und habilitierte sich 1883. Seinerzeit hatte beim Doktorexamen jeder Kandidat drei Thesen aufzustellen und zu verteidigen. Eine der Thesen Runges lautete: "Der Wert einer mathematischen Disziplin ist nach ihrer Anwendbarkeit auf empirische Wissenschaften zu schätzen." In seinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigte sich Runge mit Algebra und Funktionentheorie, insbesondere fand er einen Darstellungssatz für holomorphe Funktionen durch rationale Funktionen, den man als Ausgangspunkt der komplexen Approximationstheorie ansehen muß.
1886 erhielt Runge eine ordentliche Professur für Mathematik an der Technischen Hochschule Hannover. Er war dort für die mathematische Ausbildung angehender Ingenieure und Techniker verantwortlich. In Hannover verlagerte sich Runges Forschungsinteresse zu physikalischen Fragestellungen und zu Problemen der praktischen Mathematik. Seine Arbeiten zielten auf eine Nutzbarmachung der Mathematik für Zwecke der Naturwissenschaften und der Technik. Dabei begnügte er sich nicht damit, für eine vorgegebene Spezialfrage möglichst gute mathematische Lösungen zu finden, sondern das Spezialproblem diente ihm als Anregung für umfassende Untersuchungen, um allgemeingültige Methoden zu schaffen, die auf verschiedensten Gebieten als Handwerkszeug dienen konnten.
1904 wurde Runge, auf das Bestreben von Felix Klein, nach Göttingen berufen auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für angewandte Mathematik - das erste Ordinariat dieser Art in Deutschland. Eigens eingerichtet wurde ein neues Institut für angewandte Mathematik in der Prinzenstraße, gegenüber der ehemaligen Universitätsbibliothek. Es war verbunden mit dem Institut für angewandte Mechanik unter der Leitung des Strömungsphysikers Ludwig Prandtl.
Zusammen mit den Physikern Kayser und Paschen erforschte Runge in Hannover die Gesetzmäßigkeiten der Linienspektren der Elemente. In der numerischen Mathematik entwickelte Runge das wichtige, nach ihm und Kutta benannte Verfahren zur numerischen Lösung von Anfangswertaufgaben bei gewöhnlichen Differentialgleichungen. Für Randwertaufgaben benutzte er die Idee der Differenzenverfahren. Er leistete Beiträge zu der Frage, wie sich Interpolationspolynome bei wachsender Stützstellenzahl verhalten, erweiterte die Descartesche Zeichenregel für algebraische Gleichungen, schlug die Telescoping-Methode in der Approximationstheorie vor und entwickelte Formeln zur schnellen Berechnung trigonometrischer Summen. Auch die Idee der Spline-Funktionen kommt bei Runge schon in Ansätzen vor. Sein Wirken gab die Initialzündung zur Entwicklung der modernen praktischen Mathematik im Sinne einer mathematischen Methodenlehre zur rechnerischen Behandlung naturwissenschaftlicher und technischer Aufgabenstellungen.
In einem Nachruf auf Runge führt Richard Courant zunächst aus, wie die Mathematik im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Notwendigkeit der kritischen Grundlegung dazu getrieben wurde, "die Zusammenhänge mit anderen Wissenschaften zu lockern und eine Art von Spezialistentum und Wirklichkeitsferne zu pflegen, wie sie bis heute manchem Laien für den Mathematiker als typisch gilt. Als Felix Klein Runges Berufung als Professor für angewandte Mathematik nach Göttingen durchsetzte, tat er den entscheidenden Schritt, um der Tendenz zu den Anwendungen wieder die gebührende Stellung in unserer Wissenschaft zurückzugewinnen. Runge hat seine Aufgabe als Mathematiker erfüllt. Er hat die abgerissenen Fäden zu den Anwendungen wieder knüpfen, die Einheit der mathematischen Wissenschaft einschließlich der Anwendungen wiederherstellen helfen. An der jungen Generation liegt es, darüber zu wachen, daß das Gewonnene nicht wieder verloren geht." In diesem Sinne wurde nach Runges erfolgreichem Wirken in Göttingen eine besondere Professur für angewandte Mathematik nicht mehr für erforderlich erachtet. Nach Runges Emeritierung wurde als Nachfolger mit Herglotz ein Mathematiker zwar von hohem Rang, jedoch ohne besondere Beziehungen zu den Anwendungen, berufen. Runge selbst stimmte den Überlegungen zur Abschaffung der Professur für angewandte Mathematik wohl grundsätzlich zu. Gleichwohl erfüllte es ihn mit einem gewissen Bedauern zu sehen, daß die Richtung, die er selbst vertreten hatte, nun in Göttingen mehr oder weniger zurücktreten mußte.
In Göttingen wohnte Runge mit seiner Familie in der Wilhelm-Weber-Straße 21. Er war seit 1887 verheiratet mit Aimee du Bois-Reymond. Er hatte 2 Söhne und 4 Töchter. Das Leben der Göttinger Jahre vor 1914 war für Runge ein besonders glückliches und ausgefülltes, in freier und harmonischer Entfaltung aller menschlichen Kräfte. Zu dem Wirken als Lehrer und Forscher kam die Entspannung in der Musik und die Erholung durch vielfältige sportliche Bestätigungen: Tennis, Schlittschuh- und Skilaufen, Turnen, Wandern, Boot- und Fahrradfahren. In Hannover legte Runge die 10 km zwischen seinem Haus in dem Dorf Kirchrode und der Hochschule regelmäßig per Fahrrad zurück. Geputzt wurde das Fahrrad fast nie. Runge pflegte zu sagen, es stelle sich schließlich ein dynamisches Gleichgewicht ein: genau so viel Schmutz, wie jeden Tag neu darauf spritzte, fiele auch täglich von selbst wieder ab.