Mathematik an der Universität Göttingen
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Historische Persönlichkeiten Göttingens in der Mathematik


Felix Klein

Wenige große Mathematiker sind zugleich auch begabte Organisatoren in eigener Sache. Die Mathematik in Göttingen hatte das Glück, gleich zwei Ausnahmen zu besitzen, denn Felix Klein (1849-1925) und sein Nachfolger Richard Courant (1888-1972) bewiesen neben ihrer hohen wissenschaftlichen Leistung außerordentliches organisatorisches Geschick, die Belange ihres Fachgebietes zu vertreten, und sie entfalteten eine Wirkung, die weit über die Stadtgrenzen Göttingens reichte.

Bevor Klein 1886 mit 37 Jahren nach Göttingen kam, hatte er sich bereits den Ruf als einer der führenden Mathematiker erworben. Er war ein Geometer. Die künftige Entwicklung der Geometrie wurde durch sein "Erlanger Programm" maßgebend bestimmt. Aus Riemanns genialen Ideen hat er deren geometrischen Kern herausgearbeitet und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.

Im Jahre 1880 wurde er nach Leipzig berufen und stürzte sich sogleich in große Verwaltungsaufgaben: Er setzte sich für die Gründung eines Mathematischen Seminars mit Modellsammlung und Bibliothek ein. Als Geometer legte er großen Wert auf mathematische Modelle zur Veranschaulichung geometrischer Sachverhalte. Mit seinen Bemühungen hatte er innerhalb von sechs Monaten Erfolg; für Gebäude und Modellsammlung stellte das sächsische Kultusministerium das Geld zur Verfügung. In der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts wurden an vielen Orten solche mathematischen Seminare gegründet, Klein schloß sich dieser allgemeinen Entwicklung an.

In Leipzig begann er die Theorie der Umformisierung der algebraischen Kurven und der automorphen Formen zu entwickeln. Er geriet dabei in einen unglücklichen Wettstreit mit dem in Paris lebenden Mathematiker H. Poincaré, der neben Hilbert einer der beiden Universalmathematiker der Jahrhundertwende war. Dieser Doppelbelastung durch Verwaltung und Spitzenforschung war Felix Klein auf die Dauer nicht gewachsen. Er erlitt einen schweren Nervenzusammenbruch. In der nachfolgenden Zeit konnte sich Klein nicht mehr so intensiv wie zuvor der mathematischen Forschung widmen. Seine gewaltige Energie fand nun in anderen Tätigkeiten ihren Ausdruck: er verkörperte fortan die "fortschrittlichen" Tendenzen seiner Zeit in der Organisation des Wissenschaftsbetriebes und seiner Integration in die Gesellschaft.

1886 nahm Klein den Ruf nach Göttingen an, wo er früher bei Clebsch studiert und sich habilitiert hatte. Der preußische Minsterialrat F. Althoff reiste extra nach Leipzig, um Klein für die Göttinger Stelle zu gewinnen. Die guten Beziehungen zu Althoff, die sich in der Folge entwickelten, hielten bis zum Tode des Ministerialrates im Jahre 1908 an. Althoff hat Klein bei der Realisierung seiner vielfältigten Pläne wesentlich unterstützt.

Klein zog bald nach seiner Ankunft in Göttingen in das Haus Wilhelm-Weber-Straße 3, das am Botanischen Garten lag, unweit des Auditoriums, wo die Vorlesungen stattfanden. Kleins erste Bemühungen galten der Organisation der Mathematik in Göttingen. Er gründete 1892 mit H. Weber die Mathematische Gesellschaft, die noch heute als Teil des Mathematischen Institutes jeden Donnerstag zu einem mathematischen Vortrag zusammentrifft. Er richtete ein Lesezimmer mit Zeitschriften, Monographien und Vorlesungsausarbeitungen aller Vorlesungen ein.

Althoff hat Klein bei seinem Amerikaaufenthalt anläßlich der Weltausstellung 1893 in Chicago beauftragt Erfahrungen über das Frauenstudium zu sammeln. Trotz Widerstände studierten einige, meist amerikanische Studentinnen, in Göttingen in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Immerhin promovierten vier Frauen bei Hilbert und die große Mathematikerin Emmy Noether studierte in Göttingen. Ihr späteres Wirken als Dozentin in Göttingen ist unzertrennbar mit der großen Zeit der Göttinger Mathematik verbunden.

Klein sah die Mathematik in engem Bezug zur Gesellschaft und zu den angewandten Disziplinen. Durch ihn wurden zwei Lehrstühle in diesem Bereichen geschaffen: der Lehrstuhl für angewandte Mathematik und der für Stochastik; der erstere wurde mit Carl Runge besetzt, der zweite mit Felix Bernstein. Klein war der einzige deutsche Universitätsprofessor, der Mitglied im Verein Deutscher Ingenieure war. Er baute die Verbindungen nach amerikanischem Vorbild mit der damaligen Industrie aus. Begeistert von den Anfängen der Luftfahrt, setzte er sich für ein Forschungsinstitut für Aerodynamik und Hydrodynamik in Göttingen ein. Obwohl der große Strömungsforscher Ludwig Prandtl seit 1904 in Göttingen wirkte, wurde dieser Traum erst im Jahre 1925, nach Kleins Tod, durch die Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Strömungsforschung realisiert. In all seinen Bemühungen mußte Klein gegen gewaltige Widerstände kämpfen, hat aber trotz dieser Schwierigkeiten erstaunlich viel erreicht.

Eine weitere Tätigkeit Kleins lag in der Umgestaltung des mathematischen Unterrichts in den Schulen. Das deutsche Schulwesen war um die Jahrhundertwende Gegenstand einer großen öffentlichen Debatte. Klein sorgte dafür, daß in Göttingen der erste Lehrstuhl an einer deutschen Universität für Didaktik der mathematischen Wissenschaft eingerichtet wurde. Zu Beginn der 90iger Jahre organisierte Klein in Göttingen Ferienkurse für die Weiterbildung von Mathematikern. Die Ergebnisse dieser Bemühungen und die darauffolgenden Reformen prägten das Bild des deutschen Schulsystems ein halbes Jahrhundert. Es ist nur gerechtfertigt, wenn heute, in Anerkennung seiner großen Verdienste um die Schulen, eines der Göttinger Gymnasien seinen Namen trägt.

Klein wurde 1913 emeritiert. Er war zu dieser Zeit eine große und zugleich distanzierte Figur; er wurde "Papst" und "Außenminister" der Mathematik genannt. Sein Nachfolger war nach zwei kurzen Besetzungen des Lehrstuhls ab 1920 der 32 jährige Richard Courant, der ebenfalls einer der großen Organisatoren der Mathematik werden sollte.