Felix Bernstein (1878-1956)
Felix Bernstein, geboren am 14.02.1878 in Halle an der Saale, entstammt einer illustren, wissenschaftlich und politisch engagierten Familie von auffallender Vielseitigkeit und Ideenreichtum. Beide Eigenschaften finden sich auch bei Felix Bernstein in ungewöhnlichem Maße. Fiel er bereits als Gymnasiast durch Mitarbeit bei dem großen Mengentheoretiker Georg Cantor auf, so studierte er zunächst in Italien hauptsächlich Kunstgeschichte. Die Aufgeschlossenheit für die Künste hat er sich zeitlebens bewahrt; er modellierte selbst und pflegte Musikabende.
Wissenschaftlich setzte er erst einmal die bei Cantor begonnene Linie fort und promovierte als einer der ersten Doktoranden Hilberts in Göttingen mit einer mengentheoretischen Arbeit. Er konzentrierte sich in seinen Forschungen auch noch auf die reine Mathematik - hinzu kamen jetzt Zahlentheorie und Geometrie -, als er bereits während seiner Hallenser Dozentenzeit zu Vorlesungen über angewandte Mathematik, insbesondere Versicherungsmathematik gedrängt wurde und schließlich in Göttingen die mathematische Klasse des 1895 gegründeten Seminars für Versicherungswissenschaft übernahm.
Die Wende kam mit dem 1. Weltkrieg. Bernstein wurde als Administrator der Lederverteilung dienstverpflichtet und hatte Kurse für versehrte Offiziere abzuhalten. Es folgten Umschulungskurse in Statistik für kriegsbeschädigte Akademiker in Göttingen, und 1918 wurde schließlich unter seiner Leitung das Institut für mathematische Statistik in Göttingen gegründet. Von nun an widmete sich Bernstein in Forschung und Lehre ganz der angewandten Mathematik, vor allem praxisorientierten Fragen aus dem Versicherungswesen und der Humangenetik.
Bald gab es auch eigene praktische Erfahrungen: Zur Stabilisierung der Reichsmark beauftragte der Reichsfinanzminister Bernstein 1919 mit der Konstruktion einer Anleihe, von der - trotz Kapitalknappheit und Anleihemüdigkeit so kurz nach dem Krieg - bis zu 5 Milliarden Mark plaziert werden sollten. Tatsächlich wurden dann 3,89 Milliarden von Bernsteins "Deutscher Sparprämienanleihe" gezeichnet. Bernstein wurde Reichskommissar für Anleihen und beeinflusste so auch weiterhin den Kapitalmarkt. Er empfahl beispielsweise der Reichsbahn die Ausgabe von Anleihen, da sie einerseits wegen ihrer internationalen Verbindungen Valutagarantien gewähren, andererseits mit einer Senkung der Frachtraten und großzügigen Bauvorhaben zur Belebung der inländischen Wirtschaft beitragen könne.
Hinzu kam eine ausgedehnte Tätigkeit als Gutachter zu Problemen und Auseinandersetzungen im Versicherungswesen, auf dessen Entwicklung in Deutschland Bernstein wiederholt durch ganz konkrete Problemlösungen und Vorschläge richtungsgebend Einfluss nahm. Er betätigte sich weniger in der theoretischen versicherungsmathematischen Forschung, sondern war mehr darum bemüht, die neu aufkommenden Sachversicherungszweige zu mathematisieren. Darüberhinaus suchte er nach biologischen Kriterien, mit deren Hilfe das der Lebensversicherung zugrunde liegende Risiko vermindert werden könnte. So untersuchte er z.B. die Erblichkeit der Lebenserwartung und den Zusammenhang zwischen dem Grad der Alterssichtigkeit und der Lebenserwartung.
Die mathematische Klasse des Seminars für Versicherungswissenschaft war gut besucht. Dabei spielten sicher auch die guten Chancen in der aufstrebenden Versicherungsbranche und die damals gerade auch nicht so guten Aussichten auf eine Lehrerlaufbahn eine Rolle. Bernstein bemühte sich um eine praxisnahe Ausbildung seiner Schüler, und viele von ihnen gelangten später in führende Positionen bei Versicherungsgesellschaften. Hier können genannt werden Hermann Hitzler, Ismar von Behr, Gustav Harting, Otto Carl Siepmann, Walter Schwarzburg, Ludwig Bendfeldt, Wilhelm Bischoff, Gustav Kettler und Heinz Steinhaus.
Neben Versicherungsmathematik bot Bernstein regelmäßig Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik an. Auch hier galt sein Interesse weniger der damals vor allem in den USA vorangetriebenen theoretischen Forschung auf dem Gebiet der mathematischen Statistik. Sein Ziel war vielmehr, dieser zu seiner Zeit in Deutschland bedeutungsarmen Wissenschaft immer neue Anwendungsgebiete zu erschließen. Er entwickelte dabei einen ausgesprochenen Hang zu spektakulären Problemen, wie etwa der schon erwähnten Schätzung der Lebenserwartung aus dem Grad der Alterssichtigkeit oder dem Versuch einer Rassenanalyse aufgrund der Singstimme und dem Drehsinn des Kopfhaarwirbels. Bernstein suchte systematisch nach neuen Beispielen, erfasste schnell die zugrundeliegende Struktur und fand originelle Lösungen. Dem entsprach auch sein intuitiver, mehr an Beispielen als an systematisierender Theorie orientierter Vorlesungsstil.
Mitglieder der Göttinger medizinischen Fakultät wussten um Bernsteins während seiner Hallenser Zeit am Institut seines Vaters nebenher betriebenes Physiologiestudium; sein Vater, Julius Bernstein, war ein Pionier der Elektrobiologie. So kam es, dass Felix Bernstein immer wieder um die statistische Auswertung medizinischer Daten gebeten wurde. Die Humangenetik wurde zum wichtigsten Anwendungsgebiet seiner statistischen Methoden. Sein vielleicht am meisten Aufsehen erregender Erfolg war hier die Klärung des ABO-Blutgruppen-Erbgangs. Bernstein war auch der erste, der in Deutschland Vorlesungen über Biomathematik anbot. Bereits 1912 diskutierte er in seinem Seminar biostatistische Probleme.
Ende der zwanziger Jahre begann Bernstein mit Forschungs- und Vortragsreisen in die Vereinigten Staaten. In eine dieser Reisen fiel die nationalsozialistische Machtergreifung und die unmittelbar daraus folgende Entlassung aus seiner Göttinger Stellung. Bernstein blieb in den USA, aber die große Zeit seines wissenschaftlichen Schaffens ging zuende; es fehlte am Geld für umfangreiche Materialerhebungen, und er wurde zunehmend durch eine chronische Erkrankung behindert. Nach dem Krieg kehrte Bernstein noch einmal nach Europa zurück, als Fulbright-Professor des US-Außenministeriums in Rom. Am 03.12.1956 starb er in Zürich an Krebs.