Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800)
Kästner, der nach Gauß,'s Ausspruch unter den Dichtern seiner Zeit der beste Mathematiker und unter den Mathematikern seiner Zeit der beste Dichter gewesen ist, hat seine Selbstbiographie in Baldingers Biographien jetztlebender Ärzte und Naturforscher (Band 1, Stück 1, Jena 1768, S. 64 - 74) veröffentlicht. Sie ist von mir ergänzt und will nebst der Rede des großen Heyne das Andenken Kästners erneuern. Wenn auch, wie J. Minor sagt, Kästner mit seinem physischen Tode von den Romantikern des neunzehnten Jahrhunderts auch für die Literatur tot gemacht worden ist, so läßt doch die neueste Zeit sein Gedächtnis in dankbarer Anerkennung seiner Verdienste um die Wissenschaft und um die epigrammatische Dichtung wieder aufleben.
Aus: Heyne's Lobrede auf Kästner.
Der berühmte Christian Gottlob Heyne in Göttingen hielt Kästner ein Elogium in der Sozietät der Wissenschaften, das viele treffende und auch noch für unsere Zeit nützliche Bemerkungen an die Erinnerung dieses hervorragenden Mannes anknüpft und deshalb die allgemeine Verbreitung verdient. Es folgt hier deutlich (nach Schlichtegrolls Retrolog auf das Jahr 1800, Gotha 1806). Das lateinische Original findet sich in Commentationes Soc. Gott, T. XV.
"Niemals hätte ich geglaubt, daß ich nach der Totenfeier unseres Gatterer, der als Kollege bei der Universität und als Mitglied dieser Sozietät mein unmittelbarer Nachbar und mein engverbundener Freund war, nun auch noch unsern Kästner, meinen Landsmann und Kollegen bei der Universität und in dieser besonderen Verbindung, auch noch überleben und hier zu seinem Andenken sprechen würde. Zwar schien dies dem Naturgesetz gemäß, da er zehn Jahre älter war als ich; aber seine festere Gesundheit, seine größere Geisteslebhaftigkeit ließen mich nicht hoffen, daß ich ihm mit gleichen Schritten folgen würde.
Doch worauf dürfte man wohl bei der Hinfälligkeit des menschlichen Lebens rechnen, das nicht durch Zufall oder durch das mit seinem Scharfsinn zu ergründende Gesetz der menschlichen Schicksale oft unversehens und gegen Erwartung vereitelt werden könnte? Das ist eben auch die Ursache, die uns bei der Unmöglichkeit, künftige Schicksale voraus zu sehen, bewegen muß, unbesorgt für die Zukunft nur für den heutigen Tag zu leben, indem wir jeden Tag so ansehen, als sei er ein ganzes Leben.
Wenn irgend jemand diese Lebenskunst recht inne hatte, so war es unser Kästner, der das Leben zu gebrauchen und zu nutzen verstand, der immer besser zu leben lernte, je länger er lebte, der seine Stunden und Tage so anwendete, daß er Beweise und Denkmale hinterließ, die davon zeugten, er habe gelebt. Den Wissenschaften, und zwar den schwersten Fächern derselben gewidmet, hatte er frühzeitig sich so gewöhnt, daß er seinen Teil seines Lebens unbenützt für sein Studium verstreichen ließ, einen rechten und vorsichtigen Gebrauch der Zeit aber unter die ersten Weisheitslehren und Lebenspflichten rechnete. Da er einmal das gelehrte Leben erwählt hatte, so entzog er sich auch allen anderen öffentlichen und bürgerlichen Geschäften so und widmete sich seinen Studien so gänzlich, daß er es für seine Bestimmung hielt, nur ihnen allein zu leben. Auf welche Weise er nun zu seinem Hauptstudium gekommen sei, und wodurch er es dahin brachte, daß er darin die höchste Höhe erstieg, und doch zugleich damit noch so mancherlei anderes gründliches Wissen vereinigte, das mag jetzt, verehrte Zuhörer, der Gegenstand meiner Untersuchung sein.
Sein Leben war in jene Zeiten gefallen, in welchen die alte Rauhigkeit unserer Muttersprache abgeschliffen wurde. Durch Zufall kam er in Gottscheds Schule. Sein munterer Geist fand natürlich bald auch an den weniger ernsthaften Studien Gefallen und beschäftigte sich gern mit deutscher Beredsamkeit und Poesie, besonders mit der witzigen und epigramatischen Gattung, worin er bald so berühmt ward, daß er den meisten Menschen mehr durch seine Scherze und seinen Witz bekannt war, als durch seine Gelehrsamkeit in jenen ernsten Wissenschaften, in welchen ihm einer der ersten Plätze gebührte. Gab er zuweilen seinem Hang zum Witz zu sehr nach, so ist dies eine leicht zu verzeihende Menschlichkeit. Es ist schwer, in solchen Dingen immer Maß zu halten, durch welche man die Bewunderung anderer erregt. Zieht das, wodurch man sich auszeichnet andere an, und zwar Gelehrte und Ungelehrte, so erhält man darüber lauten Beifall: wie leicht wird man da nicht durch die Neigung, anderen zu gefallen, oder durch die Fülle des Witzes hingerissen, zuweilen auch die Grenzen zu überschreiten. Viel leichter ist es, Lob und Beifall nach eigenen, nicht nach fremden Urteil in den ernsthaften Wissenschaften gehörig zu schätzen, in welchen man nur ernsthafte, gelehrte und gesetzte Männer zu Richtern hat, und nur nach deren Beifall strebt.
Da Kästner mit den schwereren Wissenschaften zugleich Übung in der Muttersprache verband und sich unter denen, die damals die deutsche Sprache in mancherlei Versuchen ausbildeten, einen Namen gemacht hatte, so wendeten sich die Buchhändler sehr häufig an ihn, wenn sie deutsche Übersetzungen ausländischer Bücher von strengwissenschaftlichem Inhalte, an welche sich eben deswegen die gewöhnlichen, allzeit fertigen Übersetzer nicht getrauten, zu veranstalten wünschten. Von allen Seiten erhielt er Aufträge und Anfragen dieser Art. So erwarb er sich eine große Gewandtheit in der Sprache, viele Kenntnis von mannigfaltigen Dingen, eine ausgezeichnete Leichtigkeit im Schreiben und eine bewunderungswürdige Schnelligkeit des Geistes, - Eigenschaften, die wieder auf vieles andere einen vorteilhaften Einfluß hatten. Indem er auf diese Weise viele Werke aus dem Schwedischen, Englischen, Französischen und Holländischen in Deutsche übersetzte, gewann der Umfang seiner Kenntnisse und zugleich sein Stil, der, wenn er auch nicht ganz korrekt zu nennen ist, doch durch Würde, Gedankenreichtum, Leichtigkeit und, wenn er nicht eben zu sehr auf Scherz und Witz ausgeht, auch durch Natürlichkeit sich auszeichnet. Deswegen ward er denn auch für denjenigen angesehen, der sich in mathematischen und physikalischen Schriften der deutschen Sprache zuerst mit befriedigender Deutlichkeit bedient hat.
Als er bereits durch seine Gelehrsamkeit und Talente einen nicht gemeinen Ruhm erlangt hatte, zumal wenn man sein Alter mit in Anschlag brachte - er stand damals im 36. Jahre - so wurde er von jenem unsterblichen Manne, dem scharfblickenden Prüfer der Geister, von dem Minister Münchhausen auf unsere Georgia Augusta gerufen und galt sogleich für eine Zierde und endlich für einen Stern erster Größe derselben. Denn der Ruf seines Namens erschallte bis an die äußersten Grenzen von Europa und half zugleich den Ruhm unserer Akademie verbreiten. Wie sehr aber literarische Institute durch den Ruhm der Männer, die auf ihnen leben, selbst an Ruf gewinnen, und wie viele Vorteile sie daraus schöpfen, läßt sich nach Zahl und Maß und überhaupt nach allen Beziehungen nicht angeben. So kann es denn oft geschehen, daß sie, wenn sie durch eigenes Lehren und durch mündliches Vortragen ihrer Wissenschaften weniger Nutzen stiften und nicht unter die eben beliebten Dozenten gehören, doch durch den Ruhm ihres Mannes es bewirken, daß aus entfernten Gegenden viele herbeieilen, die dann nicht gerade ihren Unterricht benutzen, sondern sich mit irgend einem anderen Fache auf einer solchen Lehranstalt beschäftigen.
Keiner meiner hier versammelten Zuhörer wird leicht erwarten, daß ich hier Kästners mannigfaltige Gelehrsamkeit und Verdienste um die mathematischen und physikalischen Wissenschaften ausführlich aufzählen und rühmen würde, - ein so schweres Geschäft, daß ich mich ihm zu unterziehen nicht den Mut habe. Es gibt andere Gelehrte, die es mit größerem Geschick unternehmen werden, den Geist und die Gelehrsamkeit dieses Mannes treffend darzustellen und dem Andenken der Nachwelt zu übergeben. Mir liegt es hier nur ob, von denjenigen seiner Verdienste zu sprechen, welche unserer Sozietät der Wissenschaften vornehmlich zur Zierde und zum Ruhme gereichten.
Doch was von seinem Privatleben zu erwähnen oder zum Teil zu entschuldigen sein möchte, davon zu reden ist hier weder Ort noch Zeit. Kästner, der der Meinung war, nihil humani a se esse alienum, hielt sich nicht für fehlerlos,und allerdings hatte die Schwäche der menschlichen Natur auch über diesen großen Mann ihr Recht nicht aufgegeben. Diese kleinen Fehler und Schwächen, die sich mit einem edlen menschlichen Charakter vertragen, mißstellten ihn nicht, da sie mit vielen und großen Tugenden gepaart waren. Ich mag den Menschen nicht leiden, der von anderen Menschen fordert, sie sollen alles Menschliche ablegen und Ideale sein. Man kann wohl den Schein und die Maske einer übermenschlichen Tugend und Heiligkeit annehmen, aber nie wird man dahingelangen, daß man das wirklich ist, was man auf diese Weise zu scheinen strebt.
Man erzählt von Völkern, die ihre Toten mit Musik und frohen Gesängen zur Erde bestatten, dabei Kränze aufsetzen und dann frohe Gastmähler und Trinkgelage halten; denn, sagen sie, man müsse sich freuen, wenn Menschen von dem Elende und den Beschwerden dieses Lebens befreit würden. Aber bei diesem Manne - wenn auch die Überzeugung, daß er nun an den Ort der Seligkeit in Verbindung mit den weisesten und tugendhaftesten Geistern glücklich sei, noch wichtigere Ursachen zur Freude darbietet, - kann schon das zur Freude stimmen, daß er nach einem glücklichen, wünschenswerten Leben auch einen wünschenswerten Tod hatte; denn er starb so sanft und ruhig, daß er seinen Tod nicht fühlte und nicht einmal vermutet hatte, er werde jetzt sterben. Er hätte sich mit Ennius diese Grabschrift setzen können:
Beweine niemand einstens meinen Tod;
Wozu! Leb ich nicht in der Menschen Mund?"