Erwin Neuenschwander und Hans-Wilhelm Burmann
Zur Geschichte der Mathematik in Göttingen existieren zwar zahlreiche kleinere sowie auch einige umfassendere Abhandlungen zu Einzelfragen und für bestimmte Zeitabschnitte. Hingegen fehlt bis jetzt eine Gesamtdarstellung sowie eine Zusammenstellung der vorliegenden Literatur und der zu einem großen Teile noch unbearbeiteten Quellenmaterialien. Vor allem für die Periode von 1800 bis circa 1925 mangelt es an detaillierten Studien, und die diesbezüglichen Institutsakten lagen wohl, wie man aus der bei ihrer Entdeckung ungenügenden Kennzeichnung entnehmen kann, seit mehreren Jahrzehnten verschlossen und unbearbeitet im Universitätsarchiv. (Die Sammlung und Erschließung diesbezüglicher Quellenmaterialien erfolgte im Rahmen eines von der Stiftung Volkswagenwerk unterstützten Forschungsprojekts über "Bernhard Riemann und die Etablierung eines mathematischen Zentrums in Göttingen", welches PD Dr. Neuenschwander von 1982-1986 am Mathematischen Institut der Universität Göttingen durchführte. Unser Dank gilt auch dem Schweizerischen Nationalfonds, der die Fortsetzung dieser Arbeiten ermöglichte.)
Infolge der Beschränktheit des uns zur Verfügung stehenden Raumes war es leider nicht möglich, alle Lücken in wünschbarer Weise zu schließen. Es schien uns deshalb zunächst angebracht, im vorliegenden Artikel eine Übersicht über die größeren Entwicklungslinien zu geben und die Literatur für die nachfolgende Forschung zusammenzustellen, wobei wir von den entdeckten Quellenmaterialien ausgiebig Gebrauch machten (Der bisher nur wenig studierte Zeitraum von 1800-1925 soll später in einem gesonderten Artikel unter Beigabe von ausführlichen Quellenangaben und einigen Quellentexten eingehender gewürdigt werden. Vgl. für diesen Zeitraum einstweilen Rowe 1986, Rowe 1989 und Scharlau 1990, die erst nach Fertigstellung unserer Arbeit erschienen.) Eine detaillierte Darstellung der Zeit von der Gründung der Universität bis circa 1800 findet man bei Müller und von 1929 bis 1950 bei Schappacher. Für ergänzende Angaben zu den einzelnen Personen verweisen wir auf die meist vorzüglichen Artikel in dem von Gillispie herausgegebenen "Dictionary of Scientific Biography" sowie auf die bibliographischen Angaben im "Poggendorff" und im: "Catalogue of Scientific Papers".
Bei der Gründung der Universität waren in der philosophischen Fakultät zunächst nur fünf Lehrstühle geplant. (Zur Universitätsgründung und für die unmittelbar daran anschließende Periode vgl. neben der Arbeit von Müller 1904 die im Literaturverzeichnis angeführten Werke von Hollmann 1787, Pütter 1765-1838 und Rössler 1855 sowie Hund 1968-1987.) Als ersten Mathematiker berief von Münchhausen 1735 Johann Andreas von Segner, der in Jena Philosophie, Mathematik und Medizin studiert hatte und vor seiner akademischen Laufbahn einige Zeit als Arzt praktizierte. Neben der Mathematik betreute Segner auch die Vorlesungen in der Physik, wobei er für beide Fächer zahlreiche Lehrbücher verfaßte. Des weiteren las er gelegentlich über Chemie. Die fruchtbare schriftstellerische Tätigkeit trug Segner bald den Ruf ein, einer der besten damals in Deutschland lebenden Mathematiker zu sein. Neben Segner wirkte Johann Friedrich Penther. Ursprünglich als Oberbauinspektor der akademischen Gebäude nach Göttingen berufen, wurde er später außerordentlicher und darauf ordentlicher Professor und Fakultätsmitglied und betreute in Göttingen die praktische Mathematik. (Feldmeßkunst, Baukunst, Ökonomie usw.)
Nach seinem Tode wurde diese Stelle durch den bekannten Astronomen und Kartographen Tobias Mayer besetzt. Zu dessen Entlastung lasen auch Johann Michael Müller und Georg Moritz Lowitz, ein Schwager von Tobias Mayer, über diese Gebiete. Schon vor Mayers Ankunft in Göttingen hatte sich Segner für die Errichtung eines astronischen Observatoriums eingesetzt, das anschließend während einiger Zeit von Segner und Mayer gemeinsam benutzt wurde. Da sich dabei jedoch Kompetenzstreitigkeiten ergaben und Mayer bei der Regierung in Hannover allgemein stärkeren Rückhalt fand, verließ Segner im Jahre 1755 Göttingen und wechselte an die Universität Halle über, um den inzwischen vakant gewordenen Lehrstuhl von Christian Wolff zu übernehmen.
Segners Nachfolger wurde Abraham Gotthelf Kästner, der in Göttingen beinahe 50 Jahre wirkte. Neben der Mathematik beschäftigte er sich vor allem mit Physik und Astronomie sowie auch mit Chemie, Botanik, Anatomie, Philosophie, Literatur, um nur einige seiner zahlreichen Arbeitsgebiete anzuführen. Nach dem Tode von Mayer wurde er überdies Direktor der Sternwarte. Lichtenberg nannte ihn in einem seiner Aphorismen "Vergleichung von Leuten mit Büchern" ein "Dictionaire encyclopédique". Kästner verfaßte zahlreiche Lehrbücher. Zu den einflußreichsten gehörte sein mehrbändiges Werk "Anfangsgründe der Mathematik", welches nach Fachgebieten angeordnet in getrennten Bänden in mehreren Auflagen erschien und neben der einen Mathematik (Arithmetik, Geometrie, Analysis, Algebra) auch die angewandte Mathematik sowie die Mechanik und Hydrodynamik behandelte.
Die angewandte Mathematik vertraten zur Zeit von Kästner der oben erwähnte Lowitz sowie Albrecht Ludwig Friedrich Meister, die Physik Johann Christian Polykarp Erxleben und Georg Christoph Lichtenberg, die Astronomie Karl Felix Seyffer. Nach Kästners Tode verzichtete man darauf, einen direkten Nachfolger zu ernennen. Die Mathematik wurde in den nächsten Jahren durch Johann Christian Daniel Wildt, Bernhard Friedrich Thibaut sowie mehrere Privatdozenten vertreten. Thibaut wurde erst im Jahre 1805 zum Ordinarius ernannt; es fehlte die zentrale, überragende Persönlichkeit, wie sie der Universität Göttingen einige Jahre später in der Person von Gauß geschenkt wurde. Zudem erlebte Hannover in diesen Jahren auch eine politische Krise infolge der preußischen und nachfolgenden französischen Besetzung.
Carl Friedrich Gauß stammte aus Braunschweig, wo er auch seine Jugend und seine Schulzeit verbrachte. Dank eines Stipendiums des Herzogs von Braunschweig, der auf sein Talent aufmerksam gemacht worden war und ihn seither unterstützte, ging er im Jahre 1795 nach Göttingen, um dort Mathematik zu studieren. In Göttingen trat Gauß vor allem mit dem damaligen Professor der Astronomie Seyffer in nähere Verbindung und schätzte Lichtenberg, wogegen er von den Mathematikdozenten (Kästner, Wildt usw.) nicht allzuviel hielt. Seinen Ansprüchen hätten aber wohl auch andere deutsche Universitäten kaum genügt. 1798 kehre Gauß nach Braunschweig zurück, wo er an seinem Hauptwerk, den "Disquisitiones Arithmeticae", arbeitete und 1799 bei Pfaff in Helmstedt promovierte. Mit der Publikation der "Disquisitiones" und der Wiederentdeckung des Planetoiden Ceres nach seinen Berechnungen im Jahre 1801 gehörte Gauß mit einem Schlag zu den führenden Astronomen und Mathematikern von Europa. In der Folge erhielt er eine Gehaltszulage durch den Herzog von Braunschweig und einen Ruf als Direktor des Observatoriums in St. Petersburg, worauf W. Olbers mit der Universität Göttingen in Verhandlungen trat, um Gauß auf alle Fälle für Deutschland zu erhalten. Einer der Hauptgründe, weshalb Gauß den daraus resultierenden, 1807 an ihn ergangenen Ruf nach Göttingen annahm, war die Absicht der hannoverschen Regierung, bald ein neues Observatorium in Göttingen zu errichten und die relativ geringen Verpflichtungen, die er innerhalb der Universität zu übernehmen hatte. Nach der Fertigstellung des neuen Observatoriums im Jahre 1816 zog Gauß als Direktor ein und wohnte dort bis zu seinem Tode im Jahre 1855.
Gauß war der herausragende Mathematiker seiner Zeit, viele halten ihn für den größten Mathematiker überhaupt. Als Achtzehnjähriger entdeckte er, daß sich das regelmäßige Siebzehneck mit Zirkel und Lineal konstruieren läßt, der erste Fortschritt auf diesem Gebiet seit 2000 Jahren. Anschließend schuf er mit den "Disquisitiones Arithmeticae" die Grundlage der modernen Zahlentheorie. Seine Methoden zur Berechnung von Planetenbahnen sind im Kern bis heute nicht verbessert worden. Wie weit Gauß seinen Zeitgenossen in der komplexen Analysis voraus war, stellte sich in vollem Umfang erst bei der Veröffentlichung seines Nachlasses, seiner Briefe und seines wissenschaftlichen Tagebuches heraus, in noch stärkerem Maße gilt das für seine Erkenntnisse über nichteuklidische Geometrie. Die Beschäftigung mit der Geodäsie - um 1818 regt Gauß bei der Regierung die Vermessung des Königreichs Hannover an und trägt die Hauptlast in den ersten Jahren - führte ihn zur Untersuchung krummer Flächen, die im "Theorema Egregium" gipfeln, und deren Gedanken später von Riemann weiterentwickelt wurden. Zusammen mit Wilhelm Weber untersuchte er Elektrizität und Magnetismus, wobei sie als Nebenprodukt den elektrischen Telegraphen erfanden. Damit sind nur einige Punkte aus Gauß' gewaltigem wissenschaftlichem Werk gestreift. Auf nahezu allen Gebieten der Mathematik erzielte er entscheidende Fortschritte, mit seinen Forderungen nach mathematischer Strenge leitete er das kritische Zeitalter in der Mathematik ein, sein Stil hat die Mathematik bis heute geprägt.
Die Abhaltung von Vorlesungen scheint Gauß zumindest in seinen früheren Jahren mit einer gewissen Abneigung gegenübergestanden zu haben, wobei er anscheinend nicht unglücklich war, wenn diese infolge ungenügender Teilnehmerzahl nicht zustande kamen (Nach Dedeking 1901, S. 294). Die mathematischen Grundvorlesungen wurden während der Zeit von Gauß vor allem von dem bereits oben erwähnten Thibaut und später von Georg Karl Justus Ulrich und Moritz Abraham Stern betreut. Thibaut pflegte während der jahre 1825-1830 meist über reine Mathematik, Differential/ und Integralrechung sowie Analysis des Endlichen zu lesen, während Ulrich über Stereometrie und Trigonometrie, praktische Geometrie, Mechanik und bürgerliche Baukunst vortrug. Thibaut hatte den Ruf, der "beste Doyzent" in Göttingen zu sein, und wurde wegen seines vollendeten rhetorischen Stils von Ch.L. Gerling sogar mit Goethe verglichen. In der Physik wirkten damals zunächst Johann Tobias Mayer jun. und später neben Weber vor allem Benedikt Listing; in der Astronomie neben Gauß Kral Ludwig Harding und später Benjamin Goldschmidt.
Mit dem Tode von Gauß erlitt die Universität Göttingen eine kaum auszufüllende Lücke. So blieb die Direktion der Sternwarte während mehrerer Jahre unbesetzt und wurde unter Führung von Weber intermimistisch verwaltet, bis sie schließlich 1868 zwischen Wilhelm Klinkerfues und Ernst Schering aufgeteilt wurde. Auf mathematischem Gebiete konnte mit Peter Gustav Lejeune Dirichlet ein würdiger Nachfolger gefunden werden, der damals unter den deutschen Mathematikern das höchste Ansehen genoß. In Dirichlets Schaffen vereinigen sich zwei Strömungen, die Zahlentheorie in der Nachfolge Gauß' und die angewandte Mathematik aus der Schule der französischen Mathematiker, wofür beispielhaft der Satz über die Primzahlen in arithmetischen Progressionen samt seine schönen Beweises stehe und das ungemein fruchtbare Dirichletsche Prinzip. Dirichlet war ein begeisternder Lehrer, die nach seinem frühen Tode von R. Dedekind herausgegebenen Vorlesungen über Zahlentheorie galten für Jahrzehnte als Standardwerk.
Dirichlet waren leider nur wenige Jahre in Göttingen vergönnt, bis er relativ jung verstarb. Sein Nachfolger wurde Bernhard Riemann, der zunächst in Göttingen und anschließend bei Dirichlet in Berlin studierte und darauf unter Gauß 1851 promovierte und sich 1853 habilitiert hatte. Gauß soll von Riemanns Habilitationsvortrag tief beeindruckt gewesen sein und, nach Weber, in ihn große Erwartungen gesetzt haben. Riemanns bahnbrechende Ideen wurden in ihrer vollen Tiefe jedoch erst allmählich verstanden, ihre Wirkung war aber umso nachhaltiger, und sie geben der Mathematik bis heute wesentliche Impulse. Die Theorie der analytischen Funktionen stellte er auf eine feste Grundlage und gab ihr eine neue Dimension mit dem Riemannschen Abbildungssatz, den er mit Hilfe des Dirichletschen Prinzips bewies. Der Begriff der Riemannschen Fläche erhellte die Untersuchungen des vorhergehenden halben Jahrhunderts über algebraische Kurven, vereinheitlichte sie und öffnete den Weg für künftige große Entwicklungen in der algebraischen Geometrie und Topologie. Es war eine Sternstunde der Mathematik, als der junge Riemann dem legendären Gauß in seinem Habilitationsvortrag seine "Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen" auseinandersetzte; die Riemannsche Geometrie lieferte später den mathematischen Rahmen für Einsteins Relativitätstheorie. In seiner einzigen, nur acht Seiten langen zahlentheoretischen Arbeit lieferte Riemann den Schlüssel zu Fragen der Primzahlverteilung. Hilbert bemerkte in einer seiner Vorlesungen (Theorie der Functionen einer complexen Variablen, gelesen im W.S. 1896/97 von Professor Hilbert. Vorlesungsausarbeitung von Dörrie, Nr. 54, Mathematisches Institut der Universität Göttingen, S. 264), "... dass wohl selten eine Abhandlung von solcher Kürze, Schärfe und Genialität aus der Feder eines Menschen geflossen ist, wie dieses Meisterwerk eines der grössten Geister unserer Wissenschaft". Die Riemannsche Vermutung, deren Beantwortung unser Wissen über die Verteilung der Primzahlen erheblich erweitern würde, hat bis heute allen Beweis- und Widerlegungsversuchen getrotzt.
Leider war es Riemann ebenfalls nicht vergönnt, längere Zeit in Göttingen als Ordinarius wirken zu können, da er bereits drei Jahre nach seiner Ernennung an Tuberkulose erkrankte und danach meist in Italien zur Kur weilen musste. Auf Riemann folgte Alfred Clebsch, der wenige Jahre nach seiner Wahl ebenfalls verstarb, und dann Lazarus Fuchs, der bereits ein Jahr später einem Ruf nach Heidelberg folgte. Es fehlte damit in Göttingen erneut eine überragende, für längere Zeit wirkende Persönlichkeit, was wohl zusammen mit der in jenen Jahren stattfindenden politischen Kräfteverschiebung von Hannover nach Berlin dazu führte, daß Göttingen als mathematisches Zentrum gegenüber Berlin immer mehr ins Hintertreffen geriet.
Im Jahre 1850, noch zu Lebzeiten von Gauß, erfolgte durch die hannoversche Regierung die Gründung des mathematisch-physikalischen Seminars, aus dem dann 1922 das heutige mathematische Institut hervorgegangen ist. (Zur Eröffnung des Seminars und zu seinen Statuten siehe "Statuten des mathematisch-physikalischen Seminars...".) Sein Zweck war gemäß den Statuten die Ausbildung von Lehrern für den mathematischen und physikalischen Unterricht an höheren Lehranstalten sowie die allgemeine Hebung des Studiums der mathematisch-physikalischen Wissenschaften. Die Mitglieder verpflichteten sich, für etwa 4 - 6 Stunden wöchentlich an den Veranstaltungen der mathematischen und physikalischen Abteilung des Seminars teilzunehmen, wobei sie u.a. Übungen absolvieren und Vorträge halten mußten. Daneben wurde ihnen Gelegenheit geboten, sich in der beschreibenden Naturlehre und später in der Astronomie praktisch auszubilden. Für die besten Mitglieder wurden vom Universitätskuratorium halbjährlich Preise in Form von Stipendien ausgesetzt, des weiteren stand dem Seminar auch ein kleines Budget zur Verfügung, um die Unkosten zu decken. Während der ersten Jahre wechselte die Leitung des Seminars zwischen Listing, Stern, Ulrich und Weber, die zusammen auch den Vorstand des Seminars bildeten, wobei Stern aufgrund der Akten der Hauptinitiator zu dessen Errichtung gewesen sein dürfte. Die Ordinarien Gauß, Dirichlet und Riemann andererseits nahmen am Seminar keinen Anteil. Später änderte sich dies, indem meist sämtliche ordentliche Professoren der Mathematik, Physik und Astronomie der Direktion des Seminars angehörten.
In den ersten Jahren war die Teilnehmerzahl des mathematisch-physikalischen Seminars relativ gering, wie sich aus den im Laufe unserer Nachforschungen entdeckten, umfangreichen Akten des Seminars ergibt. Nach den erhaltenen Mitgliederlisten schwankte diese zunächst um 15 Personen. Unter den ersten Mitgliedern findet man unter anderem Dedekind, Riemann und Schering, wobei die beiden letzteren auch als "Assistenten" am mathematisch-physikalischen Seminar wirkten, indem sie gegen ein geringes Entgelt die Einübung der neu eintretenden Mitglieder übernahmen. Nach 1870 kommt es zu einer Umschichtung, indem sukzessive die gesamte ursprüngliche Leitung des mathematisch-physikalischen Seminars aus der Direktion ausscheidet. Gleichzeitig geht die Leitung der physikalischen Institute von Weber und Listing auf Eduard Riecke und Woldemar Voigt über.
Nach dem Weggang von Fuchs wird 1875 Hermann Amandus Schwarz von Zürich nach Göttingen berufen. Schwarz gestaltete seine Vorlesungen nach einem wohlbestimmten Studienplan und faßte sie in zwei Zyklen zusammen. (Nach den Angaben des Studenten Götting in Lorey 1916, S. 187 f. Für genauere Angaben siehe "Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen".) Der erste, für die Anfänger bestimmte Zyklus enthielt: Differential- und Integralrechnung, Analytische Geometrie, Flächen 2. Grades, krumme Flächen und Kurven doppelter Krümmung sowie Synthetische Geometrie; der zweite nebenherlaufende die Vorlesungen zur Funktionentheorie: Analytische Funktionen, Elliptische Funktionen, ausgewählte Kapitel der Funktionentheorie, Minimalflächen und die Hypergeometrische Reihe. Für das mathematisch-physikalische Seminar regte Schwarz, unterstützt von Stern, um 1878 die Schaffung einer Ausleihbibliothek an, die bis zu seinem Weggang nach Berlin unter seiner Verwaltung stand. Mit dem Tod von Ulrich übernimmt er auch die Leitung der "Sammlung mathematischer Instrumente und Modelle". Letztere besaß wie das mathematisch-physikalische Seminar Institutscharakter, indem beide einen eigenen Etat aufwiesen und über beide in der ab 1888 erschienenen Chronik der Universität jeweils jährlich in speziellen Rubriken berichtet wurde.
Die Sammlung mathematischer Instrumente und Modelle war aus der alten Modell- und Maschinenkammer hervorgegangen. Diese gehörte zu den ältesten Universitätsinstituten und stand zunächst oft unter der Aufsicht des jeweiligen Direktors des physikalischen Apparats (Kabinetts), was zu einer gewissen Vermengung der Sammlungsgüter und zu häufigen Streitereien um das Benutzungsrecht der in den Sammlungen enthaltenen mathematischen Instrumente führte. 1832 wird eine von Thibaut vermachte Sammlung geodätischer Instrumente in die Modellsammlung integriert. Ab 1865 stand der Modellsammlung im Auditoriengebäude am Weender Tor ein geräumiger Saal zur Aufstellung ihres Sammlungsgutes zur Verfügung. Die Modellsammlung erlitt im Laufe der Jahre tiefgreifende Veränderungen, indem mehrmals größere Bestände von alten oder nicht mehr gebrauchten Modellen und Instrumenten an andere Institute aber auch an Private abgegeben wurden, um Platz für die Neuanschaffungen zu erhalten. Nach der Übernahme durch Schwarz, und vor allem dann zur Zeit von Felix Klein, wurde die Sammlung mittels größerer außerordentlicher Zuschüsse sukzessive modernisiert und systematisch für den damals aufgenommenen Unterricht in darstellender Geometrie und Geodäsie ausgebaut. Den späteren Bestand der Modellsammlung kann man noch heute im mathematischen Institut bewundern, da bei der Planung des Gebäudes auf die Ausstellung der über 500 Modelle Rücksicht genommen wurde. (Eine Beschreibung und Abbildung von zahlreichen dieser Modelle findet man in Fischer 1986.)
Felix Klein, der große Organisator der Göttinger Mathematik und Physik, studierte in Bonn, Göttingen, Berlin und Paris, vor allem bei Plücker und Clebsch, worauf er sich 1871 in Göttingen habilitierte. 1872 folgte er einem Ruf als Ordinarius nach Erlangen, von wo er 1875 nach München, 1880 nach Leipzig und schließlich 1886, nach dem Rücktritt von Stern, nach Göttingen hinüberwechselte. In seinem Erlanger Programm formulierte Klein ein auf dem Gruppenbegriff fußendes Ordnungsprinzip für die Geometrie, das eine nachhaltige Wirkung auf die geometrische Denkweise ausübte. Er sah sich als Verbreiter der genialen Ideen Riemanns, deren geometrischen Kern er herausarbeitete und die er in die Untersuchung der Modulfunktionen und automorphen Funktionen einbrachte.
Zu Kleins Hauptanliegen gehörten neben der reinen Mathematik die Verstärkung der Verbindungen zwischen der Mathematik, den Naturwissenschaften und der Technik, d.h. den Anwendungen, sowie der organische Ausbau des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts von der untersten Stufe bis zur Hochschule. Beide Ziele haben seine Göttinger Zeit ganz wesentlich geprägt. Bereits in seinen Berufungsverhandlungen setzte sich Klein für die Schaffung eines mathematischen Lesezimmers mit Präsenzbibliothek ein, wie er es seinerzeit schon in Leipzig als Novität eingeführt hatte. Noch vor seiner Ankunft in Göttingen wird der entsprechende Antrag gebilligt, so daß bereits unmittelbar nach seinem Amtsantritt das "Lesezimmer des mathematisch-physikalischen Seminars" eröffnet werden kann. Es befand sich damals im Auditorium Nr. 20 im oberen Stock des Auditoriengebäudes am Weender Tor gleich unmittelbar neben der Modellsammlung und den Hörsälen des mathematisch-physikalischen Seminars. Zu Beginn war seine Ausstattung relativ bescheiden mit 20 Arbeitsplätzen und einer Bibliothek von ca. 500 Bänden um 1890. (Zur weiteren Entwicklung des Lesezimmers vgl. Frewer 1979. 1914 umfaßte der Bestand der Bibliothek bereits ca. 7000 Bände und 1930 etwa 9000 - 12000 Bände.)
Mit dem Weggang von Schwarz nach Berlin als Nachfolger von Weierstraß und der anschließenden Berufung von Heinrich Weber erhält Klein 1892 freie Hand, den mathematischen Unterricht in Göttingen nach seinen Wünschen zu reorganisieren. Die von Schwarz aufgebaute kleine Seminarbibliothek wird in der Folge mit der Bibliothek des mathematischen Lesezimmers vereinigt und Klein unterstellt. Zum weiteren Ausbau der Bibliothek beantragt Klein außerordentliche Mittel von 3000 Mark, die etwa dem 5fachen jährlichen Institutsetat entsprachen. Eine weitere wichtige Einnahmequelle bildeten mit den allmählich steigenden Studentenzahlen die von Klein gleich bei der Gründung eingeführten, von den Studenten zu entrichtenden Semestergebühren von 5 bzw. 3 Mark. Des weiteren übernimmt Klein von Schwarz die Leitung über die Sammlung mathematischer Instrumente und Modelle und erhält zu ihrer Betreuung vom Ministerium einen persönlichen Assistenten zugebilligt. In dieselbe Zeit fällt auch die erste Ausgabe von Studienplänen, die den Studenten bei der Immatrikulation unentgeltlich abgegeben wurden, sowie die Gründung der mathematischen Gesellschaft. (Für eine Übersicht zu Kleins diesbezüglichen Aktivitäten vgl. den Anhang zu Band 3 seiner Gesammelten Mathematischen Abhandlungen sowie Klein 1895, 1902 und 1914/15 und die Schriften "Entwurf...", "Ratschläge..." und "Studienplan...". Eine umfangreiche Sammlung von solchen Studienplänen findet man im Universitätsarchiv.)
Anschließend macht sich Klein an die Verwirklichung seines zweiten Hauptanliegens, der Verstärkung der Verbindungen zwischen der Mathematik, den Naturwissenschaften und der Technik. Hierzu gründet er im Jahre 1898 mit interessierten Industriellen und Göttinger Professoren die "Göttinger Vereinigung zur Förderung der angewandten Physik und Mathematik". (Zur Geschichte der Göttinger Vereinigung vgl. Klein 1908 und 1918, den diesbezüglichen Beitrag in "Die physikalischen Institute..." sowie Manegold 1970.) Diese stellt während der nächsten zehn Jahre über 200.000 Mark zur Förderung dieser Wissenschaften in Göttingen zur Verfügung, was zahlreiche Institutsneugründungen und Neubauten ermöglichte. So kann Klein anläßlich der 10jährigen Stiftungsfeier der Vereinigung voller Stolz darauf hinweisen, daß in den vergangenen Jahren die Institute für angewandte Elektrizität, angewandte Mathematik und Mechanik sowie das geophysikalische Institut neu gegründet wurden und sich die Anzahl der im Bereich Mathematik und Physik tätigen Ordinarien verdoppelte. Dies führte unter anderem zur Berufung von Hermann Theordor Simon, Carl Runge, Ludwig Prandtl und Emil Wiechert.
Infolge der ständig zunehmenden Anzahl der Mathematikstudenten und Lesezimmerbenutzer (SS 1895 35 Benutzer, SS 1900 127, SS 1905 245, SS 1910 305) war es dringend notwendig, weitere Räumlichkeiten für das Lesezimmer und für die unmittelbar benachbarte Modellsammlung zu erhalten. Hierzu wurden im Jahre 1900 die Zeichentische und Teile der Modellsammlung in die Hospitalstr. 12, in die frühere Wohnung des Direktors der Frauenklinik, verlegt. Gleichzeitig wurde die Sammlung, dank zahlreicher Gelder und Schenkungen von seiten der Regierung, der Göttinger Vereinigung und von diversen privaten Firmen im Gesamtumfang von über 10.000 Mark, für den Unterricht in Darstellender Geometrie und Angewandter Mathematik erweitert. Hervorzuheben sind die Anschaffung von Modellen zur Darstellenden Geometrie und von geodätischen Instrumenten, die Übernahme einer Sammlung von Instrumenten zur Nautik und zur Markscheidekunde sowie die Einrichtung von Projektionsmöglichkeiten im Auditoriengebäude. Der Unterricht in Darstellender Geometrie war schon von Schwarz im Jahre 1889 unter Mitwirkung der Privatdozenten Otto Hölder und Arthur Schoenflies aufgenommen worden und wurde später von dem außerordentlichen Professor Friedrich Schilling fortgesetzt. 1903 wird die Sammlung mathematischer Instrumente und Modelle unterteilt in eine Abteilung A für mathematische Modelle (unter der Direktion von Felix Klein) und eine Abteilung B für graphische Übungen und mathematische Instrumente (unter Schilling). Die Abteilung B wird 1904 nach dem Weggang von Schilling dem neuberufenen Ordinarius Carl Runge unterstellt und geht institutionell aufgewertet als "Abteilung für angewandte Mathematik" in dem neugegründeten Doppelinstitut für angewandte Mathematik und Mechanik auf. (Zur Entstehungsgeschichte dieses Instituts vgl. "Die physikalischen Institute...", S. 95 ff. und "Chronik...".) Diesem werden nach dem Umzug der physikalischen Institute in die Bunsenstr. um 1905 die Räumlichkeiten des alten physikalischen Instituts am Leinekanal zugewiesen. Damit ergab sich für die unter immer stärkerer Raumnot leidende Mathematik die höchst unerfreuliche Situation, daß der mathematisch-physikalische Lehrbetrieb diametral über die ganze Stadt verteilt war. Es erstaunt deshalb nicht, daß schon zu Kleins Zeiten der Wunsch nach einem neuen mathematischen Institut auftauchte. Schon 1911 glaubte Klein, diesem Wunschtraum nahe zu sein, als aus Kreisen der Göttinger Vereinigung 200.000 Mark hierfür in Aussicht gestellt wurden, nachdem bereits 1907 deren Vorsitzender ein geeignetes Grundstück in der Bunsenstr. in unmittelbarer Nähe der physikalischen Institute hatte kaufen können. (Vgl. hierzu " Aussichten...".) Die Realisierung dieser Pläne verzögerte sich jedoch durch den Ersten Weltkrieg und später durch die schwierige Wirtschaftslage und die anschließende Inflation immer wieder, so daß Klein die Ausführung eines seiner ganz großen Wunschträume nicht mehr erleben konnte.
Von Kleins weiteren organisatorischen Verdiensten müssen noch kurz erwähnt werden: seine mehrjährige Tätigkeit als Vorsitzender der Internationalen Mathematischen Unterrichtskommission (IMUK) und die damit verbundene Herausgabe mehrerer Schriftenreihen. Ferner seine Tätigkeit als Herausgeber bei den "Mathematischen Annalen" und der monumentalen "Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen". (Eine eingehende Würdigung von Kleins organisatorischen Verdiensten findet man bei Manegold 1970 und Tobies 1981.) Zu seinen allergrößten Verdiensten für Göttingen gehört jedoch zweifelsohne, daß es ihm dank seiner ausgezeichneten Beziehungen zu dem preußischen Ministerialdirektor Friedrich Althoff gelang, 1895 David Hilbert nach Göttingen zu holen und ihn trotz mehrfacher Rufe auch dort zu halten. Anläßlich einer solchen Wegberufung erlangten Hilbert und Klein 1902 von Althoff die Schaffung eines dritten mathematischen Ordinariates in Göttingen, welches zunächst mit Minkowski und alsdann mit Landau besetzt wurde. Damit war Göttingen auch rein stellenmäßig zur bestdotierten Universität auf dem Gebiete der Mathematik in ganz Deutschland aufgestiegen.
Das mathematische Zentrum des damaligen Betriebs war zweifellos David Hilbert. Wie kein anderer hat er die Mathematik des 20. Jahrhunderts in ihrer Denkweise geprägt; Hermann Weyl schrieb in einem Brief aus dem Jahre 1927: "Der Geist, in dem wir Mathematik betreiben, den haben wir doch von ihm empfangen". In seiner Universität - alle paar Jahre wandte er sich einem völlig neuen Arbeitsgebiet zu - ist er nur mit Gauß vergleichbar. Die Invariantentheorie brachte er zu einem gewissen Abschluß, indem er mit neuen "transzendenten" Methoden auf einen Schlag beantwortete. Sein Bericht über die Theorie der algebraischen Zahlkörper, kurz "Zahlbericht" genannt, was für mindestens ein halbes Jahrhundert die Bibel für alle, die sich mit algebraischer Zahlentheorie beschäftigen wollten. Mit den "Grundlagen der Geometrie" lehrte er die Mathematiker das axiomatische Denken. Zur Rechtfertigung des Dirichletschen Prinzips führte er Methoden ein, die seither zum alltäglichen Handwerkszeug in der Analysis gehören. Bei seinen Untersuchungen von Integralgleichungen erkannte er die Notwendigkeit, unendlichdimensionale Räume zu betrachten - man spricht heute von Hilberträumen -, und er entwickelte eine Spektraltheorie, womit wesentliche Grundlagen für die Quantentheorie gelegt wurden und die Entstehung der Funktionalanalysis ausgelöst wurde, eines mächtigen Zweigs der heutigen Mathematik. Sein Programm zum Beweis der Widerspruchsfreiheit der Mathematik konnte zwar nicht zum Ziel führen, wie Kurt Gödel 1933 gezeigt hat, aber es lenkte die Aufmerksamkeit auf mathematische Modelle von Rechenmaschinen und auf die Theorie formaler Sprachen, die heute die Grundlage der Informatik und Computertechnik bilden. In seinem berühmten Vortrag auf dem zweiten Internationalen Mathematikerkongress in Paris 1900 stellte Hilbert 23 Probleme vor aus den verschiedensten Bereichen der Mathematik in 20. Jahrhundert maßgebend mitbestimmt haben.
Die Liste der Vorlesungen Hilberts ist von ungeheurer Spannweite, sie enthält Titel aus allen Gebieten der reinen Mathematik, darüber hinaus behandelte er aber auch physikalische Themen wie Mechanik, Elektromagnetische Schwingungen, Relativitätstheorie und philosophische Fragen wie Wissen und Denken oder die Einheit der Naturerkenntnis. Hilbert zog die Studenten an und schlug sie in seinen Bann, 69 Doktoranden führte er zur Promotion, darunter findet man so bekannte Namen wie Otto Blumenthal, Max Dehn, Felix Bernstein, Rudolf Fueter, Erhard Schmidt, Ernst Hellinger, Hermann Weyl, Andreas Speiser, Alfred Haar, Richard Courant, Erich Hecke, Hellmut Kneser. (Nach dem Verzeichnis in: David Hilbert. Gesammelte Abhandlungen. Band 3, Berlin 1935, S. 431-433.)
Sehr eng und fruchtbar war die Zusammenarbeit zwischen Hilbert und Minkowski, sie waren Freunde seit ihrer gemeinsamen Jugendzeit in Königsberg. Hermann Minkowski erregte bereits im Alter von 18 Jahren Aufsehen, als er den "Grand Prix des Sciences Mathéatiques" der Pariser Acadéie des Sciences erhielt für die Lösung einer Preisaufgabe über quadratische Formen - ein Thema, das ihn zeit seines Lebens nicht mehr losließ. Seien ureigenste Schöpfung ist die Geometrie der Zahlen, die geometrische Begriffsbildung und Methoden mit zahlentheoretischen Problemen verknüpft, ein bis auf den heutigen Tag fruchtbares Prinzip. In seinen letzten Lebensjahren - Minkowski starb 1909 ganz plötzlich im Alter von 44 Jahren an einer Blinddarmentzündung - befaßte er sich intensiv mit der von Einstein 1905 geschaffenen speziellen Relativitätstheorie; von ihm stammt die Idee, Raum und Zeit zu einem vierdimensionalen Kontinuum zusammenzufassen. Seine hinterlassenen Notizen wurden von Max Born bearbeitet und herausgegeben. Damit war das Feld bereitet für Einsteins kühnes Konzept der allgemeinen Relativitätstheorie. Die Lücke, die Minkowskis Tod riß, wurde durch Edmund Landau geschlossen, einem hervorragenden Vertreter der analytischen Zahlentheorie, dessen Handbuch der Lehre von der Verteilung der Primzahlen lange Zeit ein Standardwerk auf diesem Gebiet war.
1904 wurde Carl Runge auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für angewandte Mathematik berufen - das erste Ordinariat dieser Art in Deutschland. Runge ist der Stammvater der komplexen Approximationstheorie; bei der näherungsweisen Lösung von Differentialgleichungen spielt das Runge-Kutta-Verfahren eine wesentliche Rolle. Ziel Runges war es vor allem, die Mathematik nutzbar zu machen für Naturwissenschaft und Technik.
Neben dem mathematisch-physikalischen Seminar und dem von Runge und Prandtl geleiteten Institut für angewandte Mathematik und Mechanik entstand 1918 um Felix Bernstein herum, dank der Unterstützung durch die Göttinger Vereinigung, das Institut für mathematische Statistik; Felix Bernstein wirkte zuvor an dem 1895 gegründeten Seminar für Versicherungswissenschaft. Von der reinen Mathematik kommend, die er um wesentliche Beiträge bereichert hat, wandte sich Felix Bernstein später vor allem Fragen der medizinischen Statistik zu. Erwähnenswert ist auch seine Beratertätigkeit für die Reichsregierung der Weimarer Republik im Zusammenhang mit Staatsanleihen.
Unter Klein, Hilbert, Minkowski, Landau und Runge im Verein mit dem Astronomen Karl Schwarzschild und den Physikern Ludwig Prandtl, Peter Debye und Emil Wiechert bildete sich die von Max Born, Harald Bohr und Richard Courant lebhaft geschilderte kreative Atmosphäre, die Wissenschaftler und Studenten aus aller Welt anzog und Göttingen damals zum Mekka der Mathematik werden ließ. Diese Atmosphäre überdauerte den Ersten Weltkrieg; erst die Nazis bereiteten ihr 1933 ein jähes Ende. Eindrucksvoll belegt wird das durch einen Auszug aus der Liste der Privatdozenten in Mathematik in der Zeit von 1895 bis 1933: Arnold Sommerfeld, Ernst Zermelo, Otto Blumenthal, Gustav Herglotz, Constantin Carathéodory, Erich Hecke und schließlich im Jahr 1920 Richard Courant.
Das Arbeitsgebiet Courants war die mathematische Physik, stets propagierte er die Öffnung der Mathematik zu den Anwendungen ganz im Sinne seines Vorgängers Felix Klein, in dessen Fußstapfen er auch als Organisator der Wissenschaft trat. Nachdem sich die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät 1922 aus der Philosophischen Fakultät herausgelöst hatte, wurden auf Courants Betreiben das mathematische Lesezimmer und die Sammlung mathematischer Instrumente und Modelle zum mathematischen Institut zusammengefaßt. Courant, Hilbert und Landau wurden Direktoren des Instituts, wobei Courant die Geschäftsführung übernahm und bis 1933 behielt. Nach der Emeritierung Runges 1924 wurde dessen Abteilung für angewandte Mathematik 1925 dem mathematischen Institut angegliedert, was zu einem längeren Briefwechsel mit dem Ministerium über das Verhältnis zum mathematisch-physikalischen Seminar führte, das daraufhin alle wichtigen die Mathematik betreffenden Funktionen an das mathematische Institut abgab. Auf den Lehrstuhl Runges wurde mit Gustav Herglotz ein "reiner" Mathematiker berufen, erst Ende der sechziger Jahre erhielt die angewandte Mathematik in Göttingen wieder eine eigenständige Vertretung.
Courant besaß ein großes Geschick im Umgang mit den von ihm verwalteten Budgets, es gelang ihm auch, wie bereits Felix Klein, private Geldmittel für das Institut locker zu machen. Daß vier Jahre nach Felix Kleins Tod dessen Idee eines Institutsneubaus Wirklichkeit wurde, ist Courants Verdienst, der über Niels und Harald Bohr Kontakte zur Rockefeller-Stiftung geknüpft hatte, und in schwierigen Verhandlungen erreichte, daß diese 350.000 Dollar für den Bau zur Verfügung stellte. Das großzügige, gut durchdachte Gebäude mit dem Lesesaal und der Präsenzbibliothek als Herzstück wurde 1929 vollendet und stellt seither ein sichtbares Zeichen der Wertschätzung der Göttinger Mathematik in aller Welt dar. An der Planung des Baues hatte Otto Neugebauer, damals Oberassistent am Mathematischen Institut und Courants rechte Hand, wesentlichen Anteil, er war auch für die Bibliothek zuständig, die er zu einer der besten mathematischen Institutsbibliotheken der Welt ausbaute.
Die bedeutendste Mathematikerin bis heute war zweifellos Emmy Noether; von 1915, als Klein und Hilbert sie nach Göttingen holten für die Mitarbeit an Fragen der Relativitätstheorie, wirkte sie in Göttingen bis 1933, als sie als eine der ersten unter dem nationalsozialistischen Regime ihre Stellung verlor. Ein erster Habilitationsversuch scheiterte an der damaligen Privatdozentenordnung, nach der nur männliche Bewerber zur Habilitation zugelassen wurden. Hilbert umging diese Ablehnung, indem er ihre Vorlesungen unter seinem Namen "mit Unterstützung von Frl. Dr. E. Noether" ankündigte. Nach Änderung der politischen Verhältnisse konnte sie sich 1919 habilitieren, erhielt 1922 die Stellung eines "nichtbeamteten außerordnetlichen Professors" und etwas später auch einen Lehrauftrag für Algebra, der ihr ein bescheidenes Einkommen sicherte. Emmy Noether gab der Algebra den strukturtheoretischen Aufbau, wie er aus der heutigen Mathematik nicht mehr wegzudenken ist. Als Hermann Weyl 1930 nach Göttingen kam, bildete sie dort nach seinem Urteil das stärkste Zentrum mathematischer Aktivität.
Nachfolger des 1930 emeritierten Hilbert wurde sein bedeutendster Schüler Hermann Weyl. Seine Interessen waren ähnlich breit gefächert wie die seines Lehrmeisters, sie reichten von fast allen Gebieten der reinen Mathematik über Relativitätstheorie und Quantenmechanik bis zur intuitionistischen Logik und philosophischen Fragen. Immer wieder überraschen seine originellen Ideen und die von ihm aufgezeigten neuen Gesichtspunkte. Seine Monographie "Die Idee der Riemannschen Fläche" war für Jahrzehnte ein Vorbild mathematischer Begriffsbildung. Aus seinem Buch "Gruppentheorie und Quantenmechanik" haben, wie man sagt, die Physiker Gruppentheorie und die Mathematiker Quantenmechanik gelernt; im Vorwort bemerkt Weyl: "Ich kann es nun einmal nicht lassen, in diesem Drama von Mathematik und Physik - die sich im Dunkeln befruchten, aber von Angesicht zu Angesicht so gerne einander verkennen und verleugnen - die Rolle des (wie ich genugsam erfuhr, oft unerwünschten) Boten zu spielen". Weyls differentialgeometrische Untersuchungen u.a. in "Raum-Zeit-Materie" entfernen aus dem Riemannschen Ansatz den letzten Rest von "Ferngeometrie" und errichten das Gebäude der "Weylschen Geometrie". Hier kommt auch zum ersten Mal der Gedanke einer Eichung auf, der in den modernen Eichtheorien der heutigen Physik eine bedeutende Rolle spielt. Weyl blieb nur drei Jahre in Göttingen, 1933 nahm er einen Ruf nach Princeton an.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten sorgten Judengesetze, politischer Druck, Diffamierungs- und Boykottkampagnen für einen Exodus von Wissenschaftlern, der die Mathematik besonders hart traf. Von den Ordinarien war es schließlich allein Herglotz, der noch sein Amt ausübte, aber auch die meisten der Extraordinarien, Privatdozenten und Assistenten wurden vertrieben. Als Hilbert 1934 von dem NS-Reichsminister Rust gefragt wurde, ob das mathematische Institut durch den Weggang der Juden und Judenfreunde gelitten habe, gab Hilbert zur Antwort: "Jelitten? Dat hat nich jelitten, Herr Minister. Dat jibt es doch janich mehr!" (Nach Fraenkel 1967, S. 159.) Versuche einer Wiederbelebung durch Helmut Hasse später im Verein mit Carl Ludwig Siegel litten unter den politischen Verhältnissen und dem ausbrechenden Zweiten Weltkrieg. Eine detaillierte Schilderung der Vorgänge von 1929 bis 1950 findet man bei N. Schappacher.
Der Wiederaufbau ist vor allem mit den Namen Carl Ludwig Siegel, Max Deuring und Franz Rellich verbunden, eine Darstellung dieser Phase bis hinein in die Gegenwart soll Beobachtern mit größerer zeitlicher Distanz überlassen bleiben.