David Hilbert lebte und wirkte 48 Jahre lang bis zu seinem Tod 1943 in Göttingen. Dabei müssen die ersten Jahre nicht einfach gewesen sein, denn die direkte und unabhängige Persönlichkeit des Ostpreußen, der seine Mundart stets beibehielt, geriet mit dem damals sehr ausgeprägten Standesdünkel in Universitätskreisen bald in Konflikt.
Als ein Skandal wurde zum Beispiel empfunden, daß der Ordinarius mit seinen Assistenten in einem öffentlichen Lokal Billard spielte. Doch Hilbert überstand die anfänglichen Schwierigkeiten ganz gut und wurde von seinen Studenten in ungewöhnlichem Maße geliebt und geehrt. Umgekehrt genoß er auch den Kontakt mit seinen Studenten. Er wanderte mit ihnen auf langen Spaziergängen, wobei neben Fragen der Mathematik auch über Politik oder Wirtschaft diskutiert wurde. Seine Frau Käthe bereitete derweil große Mahlzeiten für die Studenten vor.
In seinem Buch "Der Luxus des Gewissens" schreibt Max Born über David Hilbert: "Er war ein Original, in der Wissenschaft und im Leben. In der Unterhaltung liebte er die überspitzte Pointe. Scheinbar harmlose Bemerkungen enthielten oft eine geschliffene Schärfe oder gar Bosheit."
Ständig über ein mathematisches Problem nachdenkend, entwickelt
Hilbert Wesenszüge, die man allgemein dem zerstreuten Professor
nachsagt. Zitat Born:
Vor einer Abendgesellschaft sagt Frau
Hilbert: "Aber David, deine Krawatte ist ja schauderhaft. Geh und bind
eine
andere um." Hilbert verschwindet; die Gäste kommen. Als er nach
einer
Weile nicht wieder erscheint, wird Frau Hilbert unruhig und geht nach
oben. Sie findet ihn im Nachthemd und im Begriff, ins Bett zu steigen. Er
hatte das Ausziehen des Rockes, der Krawatte zerstreut fortgesetzt, wie er es
vom täglichen Schlafengehen gewohnt war. Seine Gedanken waren irgendwo
anders in mathematischen Gefilden.
Als man sich bei einer Gesellschaft über okkulte Dinge und Astrologie unterhielt, und einige Damen erklärten, sie glaubten fest an die Kunst aus den Sternen die Zukunft lesen zu können, meinte Hilbert auf die Frage, was er von diesen Dingen halte, wenn man die zehn klügsten Menschen der Welt zusammenbrächte, um festzustellen was das Dümmste sei, das die Menschen je erdacht hätten - auf die Astrologie wären sie doch nicht gekommen.
Ihm war alles Dunkle und Irrationale verhaßt. Und doch war er offenbar stets ein Optimist. Als er 1930 die Ehrenbürgerrechte der Stadt Königsberg verliehen bekam, wurde seine Festrede auf einer Schallplatte mitgeschnitten. Sein Glauben in die Wissenschaft und die Zukunft der mit ihr umgehenden Menschen hat er in den Schlußworten zusammengefaßt: Wir müssen wissen. Wir werden wissen.
Harald Bohr, ein bedeutender dänischer Mathematiker, der von 1887 bis 1951 lebte und Bruder des berühmten Physikers Niels Bohr war, studierte ab 1909 in Göttingen Mathematik. Zu seinem 60. Geburtstag hielt er in Kopenhagen eine Vorlesung mit der Überschrift "Rückblick". Darin sagte er:
Ich möchte gern etwas ausführlicher bei den alten Erinnerungen an Göttingen, die mir besonders lieb geworden sind, verweilen. Ich kehrte oft in späteren Jahren dorthin zurück und fühlte, als ob es fast ein zweites Zuhause für mich war. Die Atmosphäre in der kleinen Universitätsstadt jener Tage ist schwer zu beschreiben.
Seit Gauß Zeiten haben so viele der größten Mathematiker des letzten Jahrhunderts - Männer wie Riemann und Dirichlet - hier gelebt und gearbeitet. Obwohl Göttingen in vieler Hinsicht eine Provinzstadt war, ruhig und friedvoll, blühte das reichste wissenschaftliche Leben hier. Ein Geist echter internationaler Bruderschaft von seltener Intensität herrschte hier unter den vielen jungen Mathematikern, die nahezu aus aller Welt kamen, um eine Pilgerfahrt nach Göttingen zu machen, verbunden durch gemeinsames Interesse und Liebe zu ihrer Wissenschaft.
Ebenso kam aus verschiedenen Teilen Deutschlands eine Elite junger Mathematiker zu dieser einzigartigen Stätte des Lernens. Zu meiner Zeit lebten dort viele, die später höchst wichtige Beiträge zu unserer Wissenschaft leisten würden, Männer wie Weyl, Hecke, Toeplitz und Courant, um nur einige wenige der hervorragendsten unter ihnen zu nennen. Die etwas Älteren kümmerten sich sich oft um uns mit rührender Sorgfalt.
Göttingen war damals auch ein internationales Zentrum für andere Wissenschaften als die Mathematik, aber die Mathematiker bildeten bei weitem die Mehrheit unter den jungen Wissenschaftlern wegen der besonders großen Tradition für Mathematik, die es hier gab, und uns schien es jedenfalls, als ob die Stadt ganz von Mathematikern bevölkert würde.
Viele Anekdoten wurden hierüber erzählt, zum Beispiel diese über Minkowski: Als er einmal die Straße entlang ging, sah er einen ihm unbekannten jungen Mann, der mit zerquältem Gesichtsausdruck tief in Gedanken versunken war. Minkowski ging zu ihm hin, gab ihm einen kleinen Klaps auf den Rücken und sagte ermutigend: "Es wird sicher konvergieren". Und - so geht die Geschichte weiter - es war ganz richtig, der unbekannte junge Mann war ein Mathematiker, der über ein Problem nachgrübelte.