Von David Hilbert
Wer von uns würde nicht gern den Schleier lüften, unter dem die Zukunft verborgen liegt, um einen Blick zu werfen auf die bevorstehenden Fortschritte unsrer Wissenschaft und in die Geheimnisse ihrer Entwickelung während der künftigen Jahrhunderte! Welche besonderen Ziele werden es sein, denen die führenden mathematischen Geister der kommenden Geschlechter nachstreben? welche neuen Methoden und neuen Thatsachen werden die neuen Jahrhunderte entdecken - auf dem weiten und reichen Felde mathematischen Denkens?
Die Geschichte lehrt die Stetigkeit der Entwickelung der Wissenschaft. Wir wissen, daß jedes Zeitalter eigene Probleme hat, die das kommende Zeitalter löst oder als unfruchtbar zur Seite schiebt und durch neue Probleme ersetzt. Wollen wir eine Vorstellung gewinnen von der muthmaßlichen Entwickelung mathematischen Wissens in der nächsten Zukunft, so müssen wir die offenen Fragen vor unserem Geiste passiren lassen und die Probleme überschauen, welche die gegenwärtige Wissenschaft stellt, und deren Lösung wir von der Zukunft erwarten. Zu einer solchen Musterung der Probleme scheint mir der heutige Tag, der an der Jahrhundertwende liegt, wohl geeignet; denn die großen Zeitabschnitte fordern uns nicht blos auf zu Rückblicken in die Vergangenheit, sondern sie lenken unsere Gedanken auch auf das unbekannte Bevorstehende.
Die hohe Bedeutung bestimmter Probleme für den Fortschritt der mathematischen Wissenschaft im Allgemeinen und die wichtige Rolle, die sie bei der Arbeit des einzelnen Forschers spielen, ist unleugbar. Solange ein Wissenszweig Ueberfluß an Problemen bietet, ist er lebenskräftig; Mangel an Problemen bedeutet Absterben oder Aufhören der selbstständigen Entwickelung. Wie überhaupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht die mathematische Forschung Probleme. Durch die Lösung, von Problemen stählt sich die Kraft des Forschers; er findet neue Methoden und Ausblicke, er gewinnt einen weiteren und freieren Horizont.
Es ist schwierig und oft unmöglich, den Wert eines Problems im Voraus richtig zu beurteilen; denn schließlich entscheidet der Gewinn, den die Wissenschaft dem Problem verdankt. Dennoch können wir fragen, ob es allgemeine Merkmale giebt, die ein gutes mathematisches Problem kennzeichnen.
Ein alter französischer Mathematiker hat gesagt: Eine mathematische Theorie ist nicht eher als vollkommen anzusehen, als bis du sie so klar gemacht hast, daß du sie dem ersten Manne erklären könntest, den du auf der Straße triffst. Diese Klarheit und leichte Faßlichkeit, wie sie hier so drastisch für eine mathematische Theorie verlangt wird, möchte ich viel mehr von einem mathematischen Problem fordern, wenn dasselbe vollkommen sein soll; denn das Klare und leicht Faßliche zieht uns an, das Verwickelte schreckt uns ab.
Ein mathematisches Problem sei ferner schwierig, damit es uns reizt, und dennoch nicht völlig unzugänglich, damit es unserer Anstrengung nicht spotte; es sei uns ein Wahrzeichen auf den verschlungenen Pfaden zu verborgenen Wahrheiten - uns hernach lohnend mit der Freude über die gelungene Lösung.
Die Mathematiker früherer Jahrhunderte pflegten sich mit leidenschaftlichem Eifer der Lösung einzelner schwieriger Probleme hinzugeben; sie kannten den Wert schwieriger Probleme. Ich erinnere nur an das von Johann Bernoulli gestellte Problem der Linie des schnellsten Falles. Die Erfahrung zeige, so führt Bernoulli in der öffentlichen Ankündigung dieses Problems aus, daß edle Geister zur Arbeit an der Vermehrung des Wissens durch nichts mehr angetrieben werden, als wenn man ihnen schwierige und zugleich nützliche Aufgaben vorlege, und so hoffe er sich den Dank der mathematischen Welt zu verdienen, wenn er nach dem Beispiele von Männern, wie Mersenne Pascal, Fermat, Viviani und anderen, welche vor ihm dasselbe thaten, den ausgezeichneten Analysten seiner Zeit eine Aufgabe vorlege, damit sie daran wie an einem Prüfsteine die Güte ihrer Methoden beurtheilen und ihre Kräfte messen könnten. Dem genannten Problem von Bernoulli und ähnlichen Problemen verdankt die Variationsrechnung ihren Ursprung.
Fermat hatte bekanntlich behauptet, daß die Diophantische Gleichung (außer in gewissen selbstverständlichen Fällen)
Um von einem ganz anderen Forschungsgebiete zu reden, so erinnere ich an das Dreikörperproblem. Dem Umstande, daß Poincaré es unternahm, dieses schwierige Problem erneut zu behandeln und der Lösung näher zu führen, verdanken wir die fruchtbaren Methoden und die weittragenden Principien, die dieser Gelehrte der himmlischen Mechanik erschlossen hat und die heute auch der praktische Astronom anerkennt und anwendet.
Die beiden vorhingenannten Probleme, das Fermatsche Problem und das Dreikörperproblem, erscheinen uns im Vorrath der Probleme nie fast wie entgegengesetzte Pole: das erstere eine freie Erfindung des reinen Verstandes, der Region der abstrakten Zahlentheorie angehörig; das andere uns von der Astronomie aufgezwungen und nothwendig zur Erkenntnis einfachster fundamentaler Naturphänomene.
Aber oftmals trifft es sich auch, daß das nämliche specielle Problem in die verschiedenartigsten Disciplinen mathematischen Wissens eingreift. So spielt das Problem der kürzesten Linie zugleich in den Grundlagen der Geometrie, in der Theorie der krummen Linien und Flächen, in der Mechanik und in der Variationsrechnung eine wichtige historische und principielle Rolle. Und wie überzeugend hat F. Klein in seinem Buche über das Ikosaeder die Bedeutung geschildert die dem Problem der regulären Polyeder in der Elementargeometrie, in der Gruppen- und Gleichungstheorie und in der Theorie der linearen Differentialgleichungen zukommt.
Um die Wichtigkeit bestimmter Probleme in's Licht zu setzen, darf ich auch auf Weierstrass hinweisen, der es als eine glückliche Fügung bezeichnete, daß er zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn ein so bedeutendes Problem vorfand, wie es das Jacobische Umkehrproblem war, an dessen Bearbeitung er sich machen konnte.
Nachdem wir uns die allgemeine Bedeutung der Probleme in der Mathematik vor Augen geführt haben, wenden wir uns zu der Frage, aus welchen Quellen die Mathematik ihre Probleme schöpft. Sicherlich stammen die ersten und ältesten Probleme in jedem mathematischen Wissenszweige aus der Erfahrung und sind durch die Welt der äußeren Erscheinungen angeregt worden. Selbst die Regeln des Rechnens mit ganzen Zahlen sind auf einer niederen Kulturstufe der Menschheit wohl in dieser Weise entdeckt worden, wie ja auch heute noch das Kind die Anwendung dieser Gesetze nach der empirischen Methode erlernt. Das Gleiche gilt von den ersten Problemen der Geometrie: den aus dem Alterthum überlieferten Problemen der Kubusverdoppelung, der Quadratur des Kreises und den ältesten Problemen aus der Theorie der Auflösung numerischer Gleichungen, aus der Curvenlehre und der Differential- und Integralrechnung, aus der Variationsrechnung, der Theorie der Fourierschen Reihen und der Potentialtheorie - gar nicht zu reden von der weiteren reichen Fülle der eigentlichen Probleme aus der Mechanik, Astronomie und Physik.
Bei der Weiterentwickelung einer mathematischen Disciplin wird sich jedoch der menschliche Geist, ermuthigt durch das Gelingen der Lösungen, seiner Selbstständigkeit bewußt; er schafft aus sich selbst heraus oft ohne erkennbare äußere Anregung allein durch logisches Combiniren, durch Verallgemeinern, Specialisiren, durch Trennen und Sammeln der Begriffe in glücklichster Weise neue und fruchtbare Probleme und tritt dann selbst als der eigentliche Frager in den Vordergrund. So entstanden das Primzahlproblem und die übrigen Probleme der Arithmetik, die Galoissche Gleichungstheorie, die Theorie der algebraischen Invarianten, die Theorie der Abelschen und automorphen Funktionen und so entstehen überhaupt fast alle feineren Fragen der modernen Zahlen- und Funktionentheorie.
Inzwischen, während die Schaffenskraft des reinen Denkens wirkt, kommt auch wieder von neuem die Außenwelt zur Geltung, zwingt uns durch die wirklichen Erscheinungen neue Fragen auf, erschließt neue mathematische Wissensgebiete und, indem wir diese neuen Wissensgebiete für das Reich des reinen Denkens zu erwerben suchen, finden wir häufig die Antworten auf alte ungelöste Probleme und fördern so zugleich am besten die alten Theorien. Auf diesem stets sich wiederholenden und wechselnden Spiel zwischen Denken und Erfahrung beruhen, wie mir scheint, die zahlreichen und überraschenden Analogieen und jene scheinbar praestabilirte Harmonie, welche der Mathematiker so oft in den Fragestellungen, Methoden und Begriffen verschiedener Wissensgebiete wahrnimmt.
Wir erörtern noch kurz, welche berechtigten allgemeinen Forderungen an die Lösung eines mathematischen Problems zu stellen sind: ich meine vor Allem die, daß es gelingt, die Richtigkeit der Antwort durch eine endliche Anzahl von Schlüssen darzuthun und zwar auf Grund einer endlichen Anzahl von Voraussetzungen, welche in der Problemstellung liegen und die jedesmal genau zu formuliren sind. Diese Forderung der logischen Deduktion mittelst einer endlichen Anzahl von Schlüssen ist nichts anderes als die Forderung der Strenge in der Beweisführung. In der That die Forderung der Strenge, die in der Mathematik bekanntlich von sprichwörtlicher Bedeutung geworden ist, entspricht einem allgemeinen philosophischen Bedürfnis unseres Verstandes und andererseits kommt durch ihre Erfüllung allein erst der gedankliche Inhalt und die Fruchtbarkeit des Problems zur vollen Geltung. Ein neues Problem, zumal, wenn es aus der äußeren Erscheinungswelt stammt, ist wie ein junges Reis, welches nur gedeiht und Früchte trägt, wenn es auf den alten Stamm, den sicheren Besitzstand unseres mathematischen Wissens, sorgfältig und nach den strengen Kunstregeln des Gärtners aufgepfropft wird.
Zudem ist es ein Irrtum zu glauben, daß die Strenge in der Beweisführung die Feindin der Einfachheit wäre. An zahlreichen Beispielen finden wir im Gegenteil bestätigt, daß die strenge Methode auch zugleich die einfachere und leichter faßliche ist. Das Streben nach Strenge zwingt uns eben zur Auffindung einfacherer Schlußweisen; auch bahnt es uns häufig den Weg zu Methoden, die entwickelungsfähiger sind als die alten Methoden von geringerer Strenge. So erfuhr die Theorie der algebraischen Curven durch die strengere funktionentheoretische Methode und die folgerichtige Einführung transcendenter Hilfsmittel eine erhebliche Vereinfachung und größere Einheitlichkeit. Der Nachweis ferner, daß die Potenzreihe die Anwendung der vier elementaren Rechnungsarten, sowie das gliedweise Diferentiiren und Integriren gestattet und die darauf beruhende Erkenntnis der Bedeutung der Potenzreihe, trug erheblich zur Vereinfachung der gesamten Analysis, insbesondere der Theorie der Elimination und der Theorie der Differentialgleichungen sowie der in derselben zu führenden Existenzbeweise bei. Das schlagendste Beispiel aber für meine Behauptung ist die Variationsrechnung. Die Behandlung der ersten und zweiten Variation bestimmter Integrale brachte zum Teil äußerst complicirte Rechnungen mit sich und die betreffenden Entwickelungen der alten Mathematiker entbehrten der erforderlichen Strenge. Weierstrass zeigte uns den Weg zu einer neuen und sicheren Begründung der Variationsrechnung. An dem Beispiel des einfachen Integrals und des Doppelintegrals werde ich zum Schluß meines Vortrages kurz andeuten, wie die Verfolgung dieses Weges zugleich eine überraschende Vereinfachung der Variationsrechnung mit sich bringt, indem zum Nachweis der notwendigen und hinreichenden Criterien für das Eintreten eines Maximums und Minimums die Berechnung der zweiten Variation und zum Teil sogar die mühsamen an die erste Variation anknüpfenden Schlüsse völlig entbehrlich werden - gar nicht zu reden von dem Fortschritte, der in der Aufhebung der Beschränkung auf solche Variationen liegt, für die die Differentialquotienten der Funktionen nur wenig variiren.
Wenn ich die Strenge in den Beweisen als Erforderniß für eine vollkommene Lösung eines Problems hinstelle, so möchte ich andererseits zugleich die Meinung widerlegen, als seien etwa nur die Begriffe der Analysis oder gar nur diejenigen der Arithmetik der völlig strengen Behandlung fähig. Eine solche bisweilen von hervorragenden Seiten vertretene Meinung halte ich für durchaus irrig; eine so einseitige Auslegung der Forderung der Strenge führt bald zu einer Ignorirung aller aus der Geometrie, Mechanik und Physik stammenden Begriffe, zu einer Unterbindung des Zuflusses von neuem Material aus der Außenwelt und schließlich sogar in letzter Consequenz zu einer Verwerfung der Begriffe des Continuums und der Irrationalzahl. Welch wichtiger Lebensnerv aber würde der Mathematik abgeschnitten durch eine Exstirpation der Geometrie und der mathematischen Physik? Ich meine im Gegenteil, wo immer von erkenntnistheoretischer Seite oder in der Geometrie oder aus den Theorien der Naturwissenschaft mathematische Begriffe auftauchen, erwächst der Mathematik die Aufgabe, die diesen Begriffen zu Grunde liegenden Principien zu erforschen und dieselben durch ein einfaches und vollständiges System von Axiomen derart festzulegen, daß die Schärfe der neuen Begriffe und ihre Verwendbarkeit zur Deduktion den alten arithmetischen Begriffen in keiner Hinsicht nachsteht.
Zu den neuen Begriffen gehören notwendig auch neue Zeichen; diese wählen wir derart, daß sie uns an die Erscheinungen erinnern, die der Anlaß waren zur Bildung der neuen Begriffe. So sind die ggometrischen Figuren Zeichen für die Erinnerungsbilder der räumlichen Anschauung und finden als solche bei allen Mathematikern Verwendung. Wer benutzt nicht stets zugleich mit der Doppelungleichung a > b > c für drei Größen a, b, c das Bild dreier hintereinander auf einer Geraden liegenden Punkte als das geometrische Zeichen des Begriffes ``zwischen''. Wer bedient sich nicht der Zeichnung in einander gelagerter Strecken und Rechtecke, wenn es gilt einen schwierigen Satz über die Stetigkeit von Funktionen oder die Existenz von Verdichtungsstellen in voller Strenge zu beweisen. Wer könnte ohne die Figur des Dreiecks, des Kreises mit seinem Mittelpunkt, wer ohne das Kreuz dreier zueinander senkrechter Achsen auskommen? oder wer wollte auf die Vorstellung des Vektorfeldes oder das Bild einer Curven- und Flächenschaar mit ihrer Enveloppe verzichten, das in der Differentialgeometrie, in der Theorie der Differentialgleichungen, in der Begründung der Variationsrechnung und anderer rein mathematischer Wissenszweige eine so wichtige Rolle spielt?
Die arithmetischen Zeichen sind geschriebene Figuren und die geometrischen Figuren sind gezeichnete Formeln, und kein Mathematiker könnte diese gezeichneten Formeln entbehren, so wenig wie ihm beim Rechnen etwa das Formiren und Auflösen der Klammern oder die Verwendung anderer analytischer Zeichen entbehrlich sind.
Die Anwendung der geometrischen Zeichen als strenges Beweismittel setzt die genaue Kenntniß und völlige Beherrschung der Axiome voraus, die jenen Figuren zu Grunde liegen, und damit diese geometrischen Figuren dem allgemeinen Schatze mathematischer Zeichen einverleibt werden dürfen, ist daher eine strenge axiomatische Untersuchung ihres anschauungsmäßgen Inhaltes notwendig. Wie man beim Addiren zweier Zahlen die Ziffern nicht unrichtig untereinandersetzen darf, sondern vielmehr erst die Rechnungsregeln d. h. die Axiome der Arithmetik, das richtige Operiren mit den Ziffern bestimmen, so wird das Operiren mit den geometrischen Zeichen durch die Axiome der geometrischen Begriffe und deren Verknüpfung bestimmt.
Die Uebereinstimmung zwischen geometrischem und arithmetischem Denken zeigt sich auch darin, daß wir bei arithmetischen Forschungen ebensowenig wie bei geometrischen Betrachtungen in jedem Augenblicke die Kette der Denkoperationen bis auf die Axiome hin verfolgen; vielmehr wenden wir, zumal bei der ersten Inangriffnahme eines Problems, in der Arithmetik genau wie in der Geometrie zunächst ein rasches, unbewußtes, nicht definitiv sicheres Combiniren an, im Vertrauen auf ein gewisses arithmetisches Gefühl für die Wirkungsweise der arithmetischen Zeichen, ohne welches wir in der Arithmetik ebensowenig vorwärts kommen würden, wie in der Geometrie ohne die geometrische Einbildungskraft. Als Muster einer mit geometrischen Begriffen und Zeichen in strenger Weise operirenden arithmetischen Theorie nenne ich das Werk von Minkowski (Leipzig 1896, ``Geometrie der Zahlen'').
Es mögen noch einige Bemerkungen über die Schwierigkeiten, die mathematische Probleme bieten können und die Ueberwindung solcher Schwierigkeiten Platz finden.
Wenn uns die Beantwortung eines mathematischen Problems nicht gelingen will, so liegt häufig der Grund darin, daß wir noch nicht den allgemeineren Gesichtspunkt erkannt haben, von dem aus das vorgelegte Problem nur als einzelnes Glied einer Kette verwandter Probleme erscheint. Nach Auffindung dieses Gesichtspunktes wird häufig nicht nur das vorgelegte Problem unserer Erforschung zugänglicher, sondern wir gelangen so zugleich in den Besitz einer Methode, die auf die verwandten Probleme anwendbar ist. Als Beispiel diene die Einführung complexer Integrationswege in der Theorie der bestimmten Integrale durch Cauchy und die Aufstellung des Idealbegriffes in der Zahlentheorie durch Kummer. Dieser Weg zur Auffindung allgemeiner Methoden ist gewiß der gangbarste und sicherste; denn wer, ohne ein bestimmtes Problem vor Auge zu haben, nach Methoden sucht, dessen Suchen ist meist vergeblich.
Eine noch wichtigere Rolle als das Verallgemeinern spielt - wie ich glaube - bei der Beschäftigung mit mathematischen Problemen das Specialisiren. Vielleicht in den meisten Fällen, wo wir die Antwort auf eine Frage vergeblich suchen, liegt die Ursache des Mißlingens darin, daß wir einfachere und leichtere Probleme als das vorgelegte noch nicht oder noch unvollkommen erledigt haben. Es kommt dann Alles darauf an, diese leichteren Probleme aufzufinden und ihre Lösung mit möglichst vollkommenen Hilfsmitteln und durch verallgemeinerungsfähige Begriffe zu bewerkstelligen. Diese Vorschrift ist einer der wichtigsten Hebel zur Ueberwindung mathematischer Schwierigkeiten und es scheint mir, daß man sich dieses Hebels meistens - wenn auch unbewußt - bedient.
Mitunter kommt es vor, daß wir die Beantwortung unter ungenügenden Voraussetzungen oder in unrichtigem Sinne erstreben und in Folge dessen nicht zum Ziele gelangen. Es entsteht dann die Aufgabe, die Unmöglichkeit der Lösung des Problems unter den gegebenen Voraussetzungen und in dem verlangten Sinne nachzuweisen. Solche Unmöglichkeitsbeweise wurden schon von den Alten geführt, indem sie z. B. zeigten, daß die Hypotenuse eines gleichschenkligen rechtwinkligen Dreiecks zur Kathete in einem irrationalen Verhältnisse steht. In der neueren Mathematik spielt die Frage nach der Unmöglichkeit gewisser Lösungen eine hervorragende Rolle und wir nehmen so gewahr, daß alte schwierige Probleme wie der Beweis des Parallelenaxioms, die Quadratur des Kreises oder die Auflösung der Gleichungen 5ten Grades durch Wurzelziehen, wenn auch in anderem als dem ursprünglich gemeinten Sinne, dennoch eine völlig befriedigende und strenge Lösung gefunden haben.
Diese merkwürdige Thatsache neben anderen philosophischen Gründen ist es wohl, welche in uns eine Ueberzeugung entstehen läßt, die jeder Mathematiker gewiß teilt, die aber bis jetzt wenigstens niemand durch Beweise gestutzt hat - ich meine die Ueberzeugung, daß ein jedes bestimmte mathematische Problem einer strengen Erledigung notwendig fähig sein müsse, sei es, daß es gelingt, die Beantwortung der gestellten Frage zu geben, sei es, daß die Unmöglichkeit seiner Lösung und damit die Notwendigkeit des Mißlingens aller Versuche dargethan wird. Man lege sich irgend ein bestimmtes ungelöstes Problem vor, etwa die Frage nach der Irrationalität der Euler-Mascheronischen Constanten C oder die Frage, ob es unendlich viele Primzahlen von der Form giebt. So unzugänglich diese Probleme uns erscheinen und so ratlos wir zur Zeit ihnen gegenüber stehen - wir haben dennoch die sichere Ueberzeugung, daß ihre Lösung durch eine endliche Anzahl rein logischer Schlüsse gelingen muß.
Ist dieses Axiom von der Lösbarkeit eines jeden Problems eine dem mathematischen Denken allein charakteristische Eigentümlichkeit, oder ist es vielleicht ein allgemeines dem inneren Wesen unseres Verstandes anhaftendes Gesetz, daß alle Fragen, die er stellt, auch durch ihn einer Beantwortung fähig sind? Trifft man doch auch in anderen Wissenschaften alte Probleme an, die durch den Beweis der Unmöglichkeit in der befriedigendsten Weise und zum höchsten Nutzen der Wissenschaft erledigt worden sind. Ich erinnere an das Problem des Perpetuum mobile. Nach den vergeblichen Versuchen der Construktion eines Perpetuum mobile forschte man vielmehr nach den Beziehungen, die zwischen den Naturkräften bestehen müssen, wenn ein Perpetuum mobile unmöglich sein soll (Vgl. Helmholtz, Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik. Vortrag, gehalten in Königsberg 1854), und diese umgekehrte Fragestellung führte auf die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, das seinerseits die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile in dem ursprünglich, verlangten Sinne erklärt. Diese Ueberzeugung von der Lösbarkeit eines jeden mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik giebt es, kein Ignorabimus!
Unermeßlich ist die Fülle von Problemen in der Mathematik, und sobald ein Problem gelöst ist, tauchen an dessen Stelle zahllose neue Probleme auf. Gestatten Sie mir im Folgenden, gleichsam zur Probe, aus verschiedenen mathematischen Disciplinen einzelne bestimmte Probleme zu nennen, von deren Behandlung eine Förderung der Wissenschaft sich erwarten läßt.
Ueberblicken wir die Principien der Analysis und der Geometrie. Die anregendsten und bedeutendsten Ereignisse des letzten Jahrhunderts sind auf diesem Gebiete, wie mir scheint, die arithmetische Erfassung des Begriffs des Continuums in den Arbeiten von Cauchy, Bolzano, Cantor und die Entdeckung der Nicht- Euklidischen Geometrie durch Gauss, Bolyai, Lobatschefskiy. Ich lenke daher zunächst Ihre Aufmerksamkeit auf einige diesen Gebieten angehörenden Probleme.
Zwei Systeme, d.h. zwei Mengen von gewöhnlichen reellen Zahlen (oder Punkten) heißen nach Cantor aequivalent oder von gleicher Mächtigkeit, wenn sie zu einander in eine derartige Beziehung gebracht werden können, daß einer jeden Zahl der einen Menge eine und nur eine bestimmte Zahl der anderen Menge entspricht. Die Untersuchungen von Cantor über solche Punktmengen machen einen Satz sehr wahrscheinlich, dessen Beweis jedoch trotz eifrigster Bemühungen bisher noch Niemanden gelungen ist; dieser Satz lautet:
Jedes System von unendlich vielen reellen Zahlen d. h. jede unendliche Zahlen- (oder Punkt)menge ist entweder der Menge der ganzen natürlichen Zahlen 1, 2, 3, ... oder der Menge sämmtlicher reellen Zahlen und mithin dem Continuum, d.h. etwa den Punkten einer Strecke aequivalent; im Sinne der Aeqivalenz giebt es hiernach nur zwei Zahlenmengen, die abzählbare Menge und das Continuum.
Aus diesem Satz würde zugleich folgen, daß das Continuum die nächste Mächtigkeit über die Mächtigkeit der abzählbaren Mengen hinaus bildet; der Beweis dieses Satzes würde mithin eine neue Brücke schlagen zwischen der abzählbaren Menge und dem Continuum.
Es sei noch eine andere sehr merkwürdige Behauptung Cantors erwähnt, die mit dem genannten Satze in engstem Zusammenhange steht und die vielleicht den Schlüssel zum Beweise dieses Satzes liefert. Irgend ein System von reellen Zahlen heißt geordnet, wenn von irgend zwei Zahlen des Systems festgesetzt ist, welches die frühere und welches die spätere sein soll, und dabei diese Festsetzung eine derartige ist, daß, wenn eine Zahl a früher als die Zahl b und b früher als c ist, so auch stets a früher als c erscheint. Die natürliche Anordnung der Zahlen eines Systems heiße diejenige, bei der die kleinere als die frühere, die größere als die spätere festgesetzt wird. Es giebt aber, wie leicht zu sehen ist, noch unendlich viele andere Arten, wie man die Zahlen eines Systems ordnen kann.
Wenn wir eine bestimmte Ordnung der Zahlen ins Auge fassen und aus denselben irgend ein besonderes System dieser Zahlen, ein sogenanntes Teilsystem oder eine Teilmenge, herausgreifen, so erscheint diese Teilmenge ebenfalls geordnet. Cantor betrachtet nun eine besondere Art von geordneten Mengen, die er als wohlgeordnete Mengen bezeichnet und die dadurch charakterisirt sind, daß nicht nur in der Menge selbst, sondern auch in jeder Teilmenge eine früheste Zahl existirt. Das System der ganzen Zahlen 1, 2, 3, ... in dieser seiner natürlichen Ordnung ist offenbar eine wohlgeordnete Menge. Dagegen ist das System aller reellen Zahlen, d. h. das Continuum in seiner natürlichen Ordnung offenbar nicht wohlgeordnet. Denn, wenn wir als Teilmenge die Punkte einer endlichen Strecke mit Ausnahme des Anfangspunktes der Strecke ins Auge fassen, so besitzt diese Teilmenge jedenfalls kein frühestes Element. Es erhebt sich nun die Frage, ob sich die Gesamtheit aller Zahlen nicht in anderer Weise so ordnen läßt, daß jede Teilmenge ein frühestes Element, hat, d.h. ob das Continuum auch als wohlgeordnete Menge aufgefaßt werden kann, was Cantor bejahen zu müssen glaubt. Es erscheint mir höchst wünschenswert, einen direkten Beweis dieser merkwürdigen Behauptung von Cantor zu gewinnen, etwa durch wirkliche Angabe einer solchen Ordnung der Zahlen, bei welcher in jedem Teilsystem eine früheste Zahl aufgewiesen werden kann.
Wenn es sich darum handelt, die Grundlagen einer Wissenschaft zu untersuchen, so hat man ein System von Axiomen aufzustellen, welche eine genaue und vollständige Beschreibung derjenigen Beziehungen enthalten, die zwischen den elementaren Begriffen jener Wissenschaft stattfinden. Die aufgestellten Axiome sind zugleich die Definitionen jener elementaren Begriffe und jede Aussage innerhalb des Bereiches der Wissenschaft, deren Grundlagen wir prüfen, gilt uns nur dann als richtig, falls sie sich mittelst einer endlichen Anzahl logischer Schlüsse aus den aufgestellten Axiomen ableiten läßt. Bei näherer Betrachtung entsteht die Frage, ob etwa gewisse Aussagen einzelner Axiome sich untereinander bedingen und ob nicht somit die Axiome noch gemeinsame Bestandteile enthalten, die man beseitigen muß, wenn man zu einem System von Axiomen gelangen will, die völlig von einander unabhängig sind.
Vor Allem aber möchte ich unter den zahlreichen Fragen, welche hinsichtlich der Axiome gestellt werden können, dies als das wichtigste Problem bezeichnen, zu beweisen, daß dieselben untereinander widerspruchslos sind, d.h. daß man auf Grund derselben mittelst einer endlichen Anzahl von logischen Schlüssen niemals zu Resultaten gelangen kann, die miteinander in Widerspruch stehen.
In der Geometrie gelingt der Nachweis der Widerspruchslosigkeit der Axiome dadurch, daß man einen geeigneten Bereich von Zahlen construirt, derart, daß den geometrischen Axiomen analoge Beziehungen zwischen den Zahlen dieses Bereiches entsprechen und daß demnach jeder Widerspruch in den Folgerungen aus den geometrischen Axiomen auch in der Arithmetik jenes Zahlenbereiches erkennbar sein müßte. Auf diese Weise wird also der gewünschte Nachweis für die Widerspruchslogigkeit der geometrischen Axiome auf den Satz von der Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome zurückgeführt.
Zum Nachweise für die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome bedarf es dagegen eines direkten Weges.
Die Axiome der Arithmetik sind im Wesentlichen nichts anderes als die bekannten Rechnungsgesetze mit Hinzunahme des Axiomes der Stetigkeit. Ich habe sie kürzlich zusammengestellt (Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 8, 1900, S. 180) und dabei das Axiom der Stetigkeit durch zwei einfachere Axiome ersetzt, nämlich das bekannte Archimedische Axiom und ein neues Axiom des Inhaltes, daß die Zahlen ein System von Dingen bilden, welches bei Aufrechterhaltung der sämmtlichen übrigen Axiome keiner Erweiterung mehr fähig ist. (Axiom der Vollständigkeit). Ich bin nun überzeugt, daß es gelingen muß, einen direkten Beweis für die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome zu finden, wenn man die bekannten Schlußmethoden in der Theorie der Irrationalzahlen im Hinblick auf das bezeichnete Ziel genau durcharbeitet und in geeigneter Weise modificirt.
Um die Bedeutung des Problems noch nach einer anderen Rücksicht hin zu charakterisiren, möchte ich folgende Bemerkungen hinzufügen. Wenn man einem Begriffe Merkmale erteilt, die einander widersprechen, so sage ich: der Begriff existirt mathematisch nicht. So existirt z. B. mathematisch nicht eine reelle Zahl, deren Quadrat gleich -1 ist. Gelingt es jedoch zu beweisen, daß die dem Begriffe erteilten Merkmale bei Anwendung einer endlichen Anzahl von logischen Schlüssen niemals zu einem Widerspruche führen können, so sage ich, daß damit die mathematische Existenz des Begriffes z.B. einer Zahl oder einer Function, die gewisse Forderungen erfüllt, bewiesen worden ist. In dem vorliegenden Falle, wo es sich um die Axiome der reellen Zahlen in der Arithmetik handelt, ist der Nachweis für die Widerspruchslosigkeit der Axiome zugleich der Beweis für die mathematische Existenz des Inbegriffs der reellen Zahlen oder des Continuums. In der That, wenn der Nachweis für die Widerspruchslosigkeit der Axiome völlig gelungen sein wird, so verlieren die Bedenken, welche bisweilen gegen die Existenz des Inbegriffs der reellen Zahlen gemacht worden sind, jede Berechtigung. Freilich der Inbegriff der reellen Zahlen, d.h. das Continuum ist bei der eben gekennzeichneten Auffassung nicht etwa die Gesammtheit aller möglichen Dezimalbruchentwicklungen oder die Gesammtheit aller möglichen Gesetze, nach denen, die Elemente einer Fundamentalreihe fortschreiten können, sondern ein System von Dingen deren gegenseitige Beziehungen durch die aufgestellten Axiome geregelt werden und für welche alle und nur diejenigen Thatsachen wahr sind, die durch eine endliche Anzahl logischer Schlüsse aus den Axiomen gefolgert werden können. Nur in diesem Sinne ist meiner Meinung nach der Begriff des Continuums streng logisch faßbar. Thatsächlich entspricht er auch, wie mir scheint, so am besten dem, was die Erfahrung und Anschauung uns giebt. Der Begriff des Continuums oder auch der Begriff des Systems aller Functionen existirt dann in genau demselben Sinne wie etwa das System der ganzen rationalen Zahlen oder auch wie die höheren Cantorschen Zahlklassen und Mächtigkeiten. Denn ich hin überzeugt, daß auch die Existenz der letzteren in dem von mir bezeichneten Sinne ebenso wie die des Continuums wird erwiesen werden können - im Gegensatz zu dem System aller Mächtigkeiten überhaupt oder auch aller Cantorschen Alephs, für welches, wie sich zeigen läßt, ein widerspruchloses System von Axiomen in meinem Sinne nicht aufgestellt werden kann und welches daher nach meiner Bezeichnungsweise ein mathematisch nicht existirender Begriff ist.
Aus dem Gebiete der Grundlagen der Geometrie möchte ich zunächst das folgende Problem nennen.
Gauss (Werke, Bd. 8, S. 241 und 244) spricht in zwei Briefen an Gerling sein Bedauern darüber aus, daß gewisse Sätze der Stereometrie von der Exhaustionsmethode, d.h. in der modernen Ausdrucksweise von dem Stetigkeitsaxiom (oder von dem Archimedischen Axiome) abhängig sind. Gauss nennt besonders den Satz von Euklid, daß dreiseitige Pyramiden von gleicher Höhe sich wie ihre Grundflächen verhalten. Nun ist die analoge Aufgabe in der Ebene vollkommen erledigt worden (vgl. außer der früheren Litteratur, Hilbert, Grundlagen der Geometrie, Leipzig 1899, Kapitel IV); auch ist es Gerling (Gauss's Werke, Bd. 8, S.242) gelungen, die Volumengleichheit symmetrischer Polyeder durch Zerlegung in congruente Teile zu beweisen. Dennoch erscheint mir der Beweis des eben genannten Satzes von Euklid auf diese Weise im allgemeinen wohl nicht als möglich und es würde sich also um den strengen Unmöglichkeitsbeweis handeln. Ein solcher wäre erbracht, sobald es gelingt, zwei Tetraeder mit gleicher Grundfläche und von gleicher Höhe anzugeben, die sich auf keine Weise in congruente Tetraeder zerlegen lassen und die sich auch durch Hinzufügung congruenter Tetraeder nicht zu solchen Polyedern ergänzen lassen, für die ihrerseits eine Zerlegung in congruente Tetraeder möglich ist.
Eine andere Problemstellung, betreffend die Grundlagen der Geometrie ist diese. Wenn wir von den Axiomen, die zum Aufbau der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nötig sind, das Parallelenaxiom unterdrücken, bezüglich als nicht erfüllt annehmen, dagegen alle übrigen Axiome beibehalten, so gelangen wir bekanntlich zu der Lobatschefskijschen (hyperbolischen) Geometrie; wir dürfen daher sagen, daß diese Geometrie insofern eine der Euklidischen nächststehende Geometrie ist. Fordern wir weiter, daß dasjenige Axiom nicht erfüllt sein soll, wonach von drei Punkten einer Geraden stets einer und nur einer zwischen den beiden anderen liegt, so erhalten wir die Riemannsche (elliptische) Geometrie, so daß diese Geometrie als eine der Lobatschefskijschen nächststehende erscheint. Wollen wir eine ähnliche principielle Untersuchung über das Archimedische Axiom ausführen, so haben wir dieses als nicht erfüllt anzusehen und gelangen somit zu den Nicht-Archimedischen Geometrien, die von Veronese und mir untersucht worden sind. Die allgemeinere Frage, die sich nun erhebt, ist die, ob sich noch nach anderen fruchtbaren Gesichtspunkten Geometrien aufstellen lassen, die mit gleichem Recht der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nächststehend sind, und da möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen Satz lenken, der von manchen Autoren sogar als Definition der geraden Linie hingestellt worden ist und der aussagt, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Der wesentliche Inhalt dieser Aussage reduzirt sich auf den Satz von Euklid, daß im Dreiecke die Summe zweier Seiten stets größer als die dritte Seite ist, einen Satz, welcher wie man sieht, lediglich von elementaren d.h. aus den Axiomen unmittelbar entnommenen Begriffen handelt, und daher der logischen Untersuchung zugänglicher ist. Euklid hat den genannten Satz vom Dreieck mit Hülfe des Satzes vom Außenwinkel auf Grund der Congruenzsätze bewiesen. Man überzeugt sich nun leicht, daß der Beweis jenes Euklidischen Satzes allein auf Grund derenigen Congruenzsätze, die sich auf das Abtragen von Strecken und Winkeln beziehen, nicht gelingt, sondern daß man zum Beweise eines Dreieckscongruenzsatzes bedarf. So entsteht die Frage nach einer Geometrie, in welcher alle Axiome der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie und insbesondere alle Congruenzaxiome mit Ausnahme des einen Axioms von der Dreieckscongruenz (oder auch mit Ausnahme des Satzes von der Gleichheit der Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck) gelten und in welcher überdies noch der Satz, daß in jedem Dreieck die Summe zweier Seiten größer als die dritte ist, als besonderes Axiom aufgestellt wird.
Man findet, daß eine solche Geometrie thatsächlich existirt und keine andere ist als diejenige, welche Minkowski (Leipzig 1896.) in seinem Buche ``Geometrie der Zahlen'' aufgestellt und zur Grundlage seiner arithmetischen Untersuchungen gemacht hat. Die Minkowskische Geometrie ist also ebenfalls eine der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nächststehende; sie ist im Wesentlichen durch folgende Festsetzungen charakterisirt: Erstens: Die Punkte, die von einem festen Punkt O gleichen Abstand haben, werden durch eine convexe geschlossene Fläche des gewöhnlichen Enklidischen Raumes mit O als Mittelpunkt repräsentirt. Zweitens: Zwei Strecken heißen auch dann einander gleich, wenn man sie durch Parallelverschiebung des Euklidischen Raumes ineinander überführen kann.
In der Minkowskischen Geometrie gilt das Parallelenaxiom; ich gelangte bei einer Betrachtung (Mathematische Annalen, Bd. 46 S. 91.), die ich über den Satz von der geraden Linie als kürzester Verbindung zweier Punkte anstellte, zu einer Geometrie, in welcher nicht das Parallelenaxiom gilt, während alle übrigen Axiome der Minkowskischen Geometrie erfüllt sind. Wegen der wichtigen Rolle, die der Satz von der Geraden als kürzester Verbindung zweier Punkte und der im wesentlichen aequivalente Satz von Euklid über die Seiten eines Dreiecks nicht nur in der Zahlentheorie, sondern auch in der Theorie der Flächen und in der Variationsrechnung spielt, und da ich glaube, daß die eingehendere Untersuchung der Bedingungen für die Gültigkeit dieses Satzes ebenso auf den Begriff der Entfernung wie auch noch auf andere elementaren Begriffe z.B. den Begriff der Ebene und die Möglichkeit ihrer Definition mittelst des Begriffes der Geraden ein neues Licht werfen wird, so erscheint mir die Aufstellung und systematische Behandlung der hier möglichen Geometrien wünschenswert.
Im Fall der Ebene und unter Zugrundelegung des Stetigkeitsaxioms führt das genannte Problem auf die von Darboux (Leçons sur la théorie générale des surfaces. Bd. 3, Paris 1894, S. 54.) behandelte Frage, alle Variationsprobleme in der Ebene zu finden, für welche sämtliche Geraden der Ebene die Lösungen sind - eine Fragestellung, die mir weitgehender Verallgemeinerungen (Vgl. die interessanten Untersuchungen von A. Hirsch, Mathematische Annalen, Bd. 49 und 50.) fähig und würdig erscheint.
Lie hat bekanntlich mit Hinzuziehung des Begriffs der continuirlichen Transformationsgruppe ein System von Axiomen für die Geometrie aufgestellt und auf Grund seiner Theorie der Transformationsgruppen bewiesen, daß dieses System von Axiomen zum Aufbau der Geometrie hinreicht. Da Lie jedoch bei Begründung seiner Theorie stets annimmt, daß die die Gruppe definirenden Functionen differenzirt werden können, so bleibt in den Lieschen Entwickelungen unerörtert, ob die Annahme der Differenzirbarkeit bei der Frage nach den Axiomen der Geometrie thatsächlich unvermeidlich ist oder nicht vielmehr als eine Folge des Gruppenbegriffs und der übrigen geometrischen Axiome erscheint. Diese Ueberlegung, sowie auch gewisse Probleme hinsichtlich der arithmetischen Axiome legen uns die allgemeinere Frage nahe, in wieweit der Liesche Begriff der continuirlichen Transformationsgruppe auch ohne Annahme der Differenzirbarkeit der Functionen unserer Untersuchung zugänglich ist. Bekanntlich definirt Lie die endliche continuirliche Transformationsgruppe als ein System von Transformationen
von der Beschaffenheit, daß zwei beliebige Transformationen,
des Systems nacheinander ausgeführt, eine Transformation ergeben, welche wiederum dem System angehört und sich mithin in der Form
darstellen läßt, wo gewisse Functionen von sind. Die Gruppeneigenschaft findet mithin ihren Ausdruck in einem System von Functionalgleichungen und erfordert an sich für die Functionen keinerlei nähere Beschränkung. Doch die weitere Behandlungsweise jener Functionalgleichungen nach Lie, nämlich die Ableitung der bekannten grundlegenden Differentialgleichungen, setzt notwendig die Stetigkeit und Differenzirbarkeit der die Gruppe definirenden Functionen voraus.
Was zunächst die Stetigkeit betrifft, so wird man gewiß an dieser Forderung zunächst festhalten - schon im Hinblick auf die geometrischen und arithmetischen Anwendungen, bei denen die Stetigkeit der in Frage kommenden Functionen als eine Folge des Stetigkeitsaxioms erscheint. Dagegen enthält die Differenzirbarkeit der die Gruppe definirenden Functionen eine Forderung, die sich in den geometrischen Axiomen nur auf recht gezwungene und complicirte Weise zum Ausdruck bringen läßt, und es entsteht mithin die Frage, ob nicht etwa durch Einführung geeigneter neuer Veränderlicher und Parameter die Gruppe stets in eine solche übergef ührt werden kann, für welche die definirenden Functionen differenzirbar sind, oder ob wenigstens unter Hinzufügung gewisser einfacher Annahmen eine Ueberführung in die der Lieschen Methode zugänglichen Gruppen möglich ist. Die Zurückführung auf analytische Gruppen ist nach einem von Lie (Lie-Engel, Theorie der Transformationsgruppen, Bd. 3, Leipzig 1893) aufgestellten und von Schur (Ueber den analytischen Charakter der eine endliche continuirliche Transformationsgruppe darstellenden Functionen. Mathematische Annalen, Bd. 41.) zuerst bewiesenen Satze stets dann möglich, sobald die Gruppe transitiv ist und die Existenz der ersten und gewisser zweiter Ableitungen der die Gruppe definirenden Functionen vorausgesetzt wird.
Auch für unendliche Gruppen ist, wie ich glaube, die Untersuchung entsprechenden Frage von Interesse. Ueberhaupt werden wir auf das weite und nicht uninteressante Feld der Functionalgleichungen geführt, die bisher meist nur unter der Voraussetzung der Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen untersucht worden sind. Insbesondere die von Abel (Werke, Bd. 1 S. 1, 61, 389.) mit so vielem Scharfsinn behandelten Functionalgleichungen, die Differenzengleichungen und andere in der Litteratur vorkommende Gleichungen weisen an sich nichts auf, was zur Forderung über Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen zwingt, und bei gewissen Existenzbeweisen in der Variationsrechnung fiel mir direkt die Aufgabe zu, aus dem Bestehen einer Differenzengleichung die Differenzirbarkeit der betrachteten Function beweisen zu müssen. In allen diesen Fällen erhebt sich daher die Frage, inwieweit etwa die Aussagen, die wir im Falle der Annahme differenzirbarer Functionen machen können, unter geeigneten Modifikationen ohne diese Voraussetzung gültig sind.
Bemerkt sei noch, daß H. Minkowski in seiner vorhin genannten ``Geometrie der Zahlen'' von der Functionalungleichung
ausgeht und aus dieser in der That die Existenz gewisser Differentialquotienten für die in Betracht kommenden Functionen zu beweisen vermag.
Andererseits hebe ich hervor, daß es sehr wohl analytische Functionalgleichungen giebt, deren einzige Lösungen nichtdifferenzirbare Functionen sind. Beispielsweise kann man eine eindeutige stetige nichtdifferenzirbare Function g(x) construiren, die die einzige Lösung zweier Functionalgleichungen
darstellt, wo a, b zwei reelle Zahlen und f(x) eine für alle reellen Werte von x reguläre analytische eindeutige Function bedeutet. Man gelangt am einfachsten zu solchen Functionen mit Hülfe trigonometrischer Reihen durch einen ähnlichen Gedanken, wie ihn Borel nach einer jüngsten Mitteilung von Picard (Quelques théories fondamentales dans l'analyse mathématique. Conférences faites à Clark-University. Revue générale des Sciences 1900. S. 22.) zur Construction einer doppelperiodischen nichtanalytischen Lösung einer gewissen analytischen partiellen Differentialgleichung benutzt hat.
Durch die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie wird uns die Aufgabe nahegelegt, nach diesem Vorbilde diejenigen physikalischen Disciplinen axiomatisch zu behandeln, in denen schon heute die Mathematik eine hervorragende Rolle spielt; dies sind in erster Linie die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Mechanik.
Was die Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Vgl. Bohlmann, Ueber Versicherungsmathematik 2te Vorlesung aus Klein und Riecke, Ueber angewandte Mathematik und Physik, Leipzig und Berlin 1900) angeht, so scheint es mir wünschenswert, daß mit der logischen Untersuchung derselben zugleich eine strenge und befriedigende Entwickelung der Methode der mittleren Werte in der mathematischen Physik, speciell in der kinetischen Gastheorie Hand in Hand gehe.
Ueber die Grundlagen der Mechanik liegen von physikalischer Seite bedeutende Untersuchungen vor; ich weise hin auf die Schriften von Mach, (Die Mechanik in ihrer Entwickelung, Leipzig, zweite Auflage. Leipzig 1889) Hertz (Die Principien der Mechanik, Leipzig 1894) Boltzmann, (Vorlesungen über die Principien der Mechanik, Leipzig 1897) und Volkmann; (Einführung in das Studium der theoretischen Physik, Leipzig 1900) es ist daher sehr wünschenswert, wenn auch von den Mathematikern die Erörterung der Grundlagen der Mechanik aufgenommen würde. So regt uns beispielsweise das Boltzmannsche Buch über die Principe der Mechanik an, die dort angedeuteten Grrenzprocesse, die von der atomistischen Auffassung zu den Gesetzen über die Beweung der Continua führen, streng mathematisch zu begründen und durchzuführen. Umgekehrt könnte man die Bewegung über die Gesetze starrer Körper durch Grenzprocesse aus einem System von Axiomen abzuleiten suchen, die auf der Vorstellung von stetig veränderlichen, durch Parameter zu definirenden Zuständen eines den ganzen Raum stetig erfüllenden Stoffes beruhen - ist doch die Frage nach der Gleichberechtigung verschiedener Axiomensysteme stets von hohem principiellen Interesse.
Soll das Vorbild der Geometrie für die Behandlung der physikalischen Axiome maßgebend sein, so werden wir versuchen, zunächst durch eine geringe Anzahl von Axiomen eine möglichst allgemeine Klasse physikalischer Vorgänge zu umfassen und dann durch Adjunktion neuer Axiome der Reihe nach zu den specielleren Theorieen zu gelangen - wobei vielleicht ein Einteilungsprincip aus der so tiefsinnigen Theorie der unendlichen Transformationsgruppen von Lie entnommen werden kann. Auch wird der Mathematiker, wie er es in der Geometrie gethan hat, nicht bloß die der Wirklichkeit nahe kommenden, sondern überhaupt alle logisch möglichen Theorien zu berücksichtigen haben und stets darauf bedacht sein, einen vollständigen Ueberblick über die Gesamtheit der Folgerungen zu gewinnen, die das gerade angenommene Axiomensystem nach sich zieht.
Ferner fällt dem Mathematiker in Ergänzung der physikalischen Betrachtungsweise die Aufgabe zu, jedes Mal genau zu prüfen, ob das neu adjungirte Axiom mit den früheren Axiomen nicht in Widerspruch steht. Der Physiker sieht sich oftmals durch die Ergebnisse seiner Experimente gezwungen, zwischendurch und während der Entwickelung seiner Theorie neue Annahmen zu machen, indem er sich betreffs der Widerspruchslosigkeit der neuen Annahmen mit den früheren Axiomen lediglich auf eben jene Experimente oder auf ein gewisses physikalisches Gefühl beruft - ein Verfahren, welches beim streng logischen Aufbau einer Theorie nicht statthaft ist. Der gewünschte Nachweis der Widerspruchslosigkeit aller gerade gemachten Annahmen erscheint mir auch deshalb von Wichtigkeit, weil das Bestreben, einen solchen Nachweis zu führen, uns stets am wirksamsten zu einer exakten Formulirung der Axiome selbst zwingt.
Wir haben bisher lediglich Fragen über die Grundlagen mathematischer Wissenszweige berücksichtigt. In der That ist die Beschäftigung mit den Grundlagen einerwissenschaft von besonderem Reiz und es wird die Prüfung dieser Grundlagen stets zu den vornehmsten Aufgaben des Forschers gehören. Das ``Endziel'' so hat Weierstrass einmal gesagt, ``welches man stets im Auge behalten muß, besteht darin, daß man über die Fundamente der Wissenschaft ein sicheres Urteil zu erlangen suche'' ... ``Um überhaupt in die Wissenschaften einzudringen, ist freilich die Beschäftigung mit einzelnen Problemen unerläßlich.'' In der That bedarf es zur erfolgreichen Behandlung der Grundlagen einer Wissenschaft des eindringenden Verständnisses ihrer speziellen Theorien; nur der Baumeister ist im Stande, die Fundamente für ein Gebäude sicher anzulegen, der die Bestimmung des Gebäudes selbst im Einzelnen gründlich kennt. So wenden wir uns nunmehr zu speciellen Problemen einzelner Wissenszweige der Mathematik und berücksichtigen dabei zunächst die Arithmetik und die Algebra.
Hermites arithmetische Sätze über die Exponentialfunction und ihre Weiterführung durch Lindemann sind der Bewunderung aller mathematischen Generationen sicher. Aber zugleich erwächst uns die Aufgabe, auf dem betretenen Wege fortzuschreiten. Ich möchte daher eine Klasse von Problemen kennzeichnen, die meiner Meinung nach als die nächstliegenden hier in Angriff zu nehmen sind. Wenn wir von speciellen, in der Analysis wichtigen transcendenten Functionen erkennen, daß sie für gewisse algebraische Argumente algebraische Werte annehmen, so erscheint uns diese Thatsache stets als besonders merkwürdig und der eingehenden Untersuchung würdig. Wir erwarten eben von transcendenten Funktionen, daß sie für algebraische Argumente im Allgemeinen auch transcendente Werte annehmen, und obgleich uns wohl bekannt ist, daß es thatsäcblich ganze transcendente Functionen giebt, die für alle algebraischen Argumente sogar rationale Werte besitzen, so werden wir es doch für höchst wahrscheinlich halten, daß z.B. die Exponentialfunction die offenbar für alle rationalen Argumente z stets algebraische Werte hat, andrerseits für alle irrationalen algebraischen Argumente z stets transcendente Zahlenwerte annimmt. Wir können dieser Aussage auch eine geometrische Einkleidung geben, wie folgt. Wenn in einem gleichschenkligen Dreieck das Verhältnis von Basiswinkel zum Winkel an der Spitze algebraisch, aber nicht rational ist, so ist das Verhältnis zwischen Basis une Schenkel stets transcendent. Trotz der Einfachheit dieser Aussage und der Aehnlichkeit mit den von Hermite und Lindemann gelösten Problemen halte ich doch den Beweis dieses Satzes für äußerst schwierig, ebenso wie etwa den Nachweis dafür, daß die Potenz für eine algebraische Basis a und einen algebraisch irrationalen Exponenten b, z.B. die Zahl oder , stets eine transcendente oder auch nur eine irrationale Zahl darstellt. Es ist gewiß, daß die Lösung dieser und ähnlicher Probleme uns zu ganz neuen Methoden und zu neuen Einblicken in das Wesen specieller irrationaler und transcendenter Zahlen führen muß.
In der Theorie der Verteilung der Primzahlen sind in neuerer Zeit durch Hadamard, de la Vallée Poussin, v. Mangoldt und Andere wesentliche Fortschritte gemacht worden. Zur vollständigen Lösung der Probleme, die uns die Riemannsche Abhandlung ``Ueber die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe'' gestellt hat, ist es jedoch noch nötig, die Richtigtigkeit der äußerst wichtigen Behauptung von Riemann nachzuweisen, daß die Nullstellen der Function zeta(s), die durch die Reihe
dargestellt wird, sämtlich den reellen Bestandteil ½ haben - wenn man von den bekannten negativ ganzzahligen Nullstellen absieht. Sobald dieser Nachweis gelungen ist, so würde die weitere Aufgabe darin bestehen, die Riemannsche unendliche Reihe für die Anzahl der Primzahlen genauer zu prüfen und insbesondere zu entscheiden, ob die Differenz zwischen der Anzahl der Primzahlen unterhalb einer Größe x und dem Integrallogarithmus von x in der That von nicht höherer als der ½ten Ordnung in x unendlich wird, und ferner, ob dann die von den ersten complexen Nullstellen der Function zeta(s) abhängengen Glieder der Riemannschen Formel wirklich die stellenweise Verdichtung der Primzahlen bedingen, welche man bei den Zählungen der Primzahlen bemerkt hat.
Nach einer erschöpfenden Diskussion der Riemannschen Primzahlenformel wird man vielleicht dereinst in die Lage kommen, an die strenge Beantwortung des Problems von Goldbach (Vgl. P. Stäckel: Ueber Goldbach's empirisches Theorem. Nachrichten der K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen 1896 und Landau, ebenda 1900} zu gehen, ob jede gerade Zahl als Summe zweier Primzahlen darstellbar ist, ferner an die bekannte Frage, ob es unendlich viele Primzahlenpaare mit der Differenz 2 giebt oder gar an das allgemeinere Problem, ob die lineare Diophantische Gleichung
mit gegebenen ganzzahligen paarweise teilerfremden Coefficienten a, b, c stets in Primzahlen x, y lösbar ist.
Aber von nicht geringerem Interesse und vielleicht von noch größerer Tragweite erscheint mir die Aufgabe, die für die Verteilung der rationalen Primzahlen gewonnenen Resultate auf die Theorie der Verteilung der Primideale in einem gegebenen Zahlkörper k zu übertragen - eine Aufgabe, die auf das Studium der dem Zahlkörper zugehörigen Function
hinausläuft, wo die Summe über alle Ideale j des gegebenen Zahlkörpers k zu erstrecken ist und n(j) die Norm des Ideals j bedeutet.
Ich nenne noch drei speciellere Probleme aus der Zahlentheorie, nämlich eines über die Reciprocitätsgesetze, eines über diophantische Gleichungen und ein drittes aus dem Gebiete der quadratischen Formen.
Für einen beliebigen Zahlkörper soll das Reciprocitätsgesetz der l-ten Potenzreste bewiesen werden, wenn l eine ungerade Primzahl bedeutet und ferner, wenn l eine Potenz von 2 oder eine Potenz einer ungeraden Primzahl ist. Die Aufstellung des Gesetzes, wie die wesentlichen Hülfsmittel zum Beweise desselben werden sich, wie ich glaube, ergeben, wenn man die von mir entwickelte Theorie des Körpers der l ten Einheitswurzeln {Bericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung über die Theorie der algebraischen Zahlkörper, Bd. IV, 1897. Fünfter Teil} und meine Theorie {Mathematische Annalen, Bd. 51 und Nachrichten der K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen 1898} des relativ-quadratischen Körpers in gehöriger Weise verallgemeinert.
Eine D i o p h a n t i s c h e Gleichung mit irgend welchen Unbekannten und mit ganzen rationalen Zahlencoefficienten sei vorgelegt: man soll ein Verfahren angeben, nach welchem sich mittelst einer endlichen Anzahl von Operationen entscheiden. läßt, ob die Gleichung in ganzen rationalen Zahlen lösbar ist.
Unsere jetzige Kenntnis der Theorie der quadratischen Zahlkörper {Hilbert, Ueber den Dirichletschen biquadratischen Zahlenkörper, Mathematische Annalen, Bd. 45; Ueber die Theorie der relativquadratischen Zahlkörper, Bericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 1897 und Mathematische Annalen. Bd. 51 ; Ueber die Theorie der relativ-Abelschen Körper, Nachrichten d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen 1898; Grundlagen der Geometrie, Festschrift zur Enthüllung des Gauss-Weber-Denkmals in Göttingen, Leipzig 1899, Kapitel VIII § 83} setzt uns in den Stand, die Theorie der quadratischen Formen mit beliebig vielen Variabeln und beliebigen algebraischen Zahlencoefficienten erfolgreich in Angriff zu nehmen. Damit wird insbesondere zu der interessanten Aufgabe, eine quadratische Gleichung beliebig vieler Variabeln mit algebraischen Zahlencoeffizienten in solchen ganzen oder gebrochenen Zahlen zu lösen, die in dem durch die Coefficienten bestimmten algebraischen Rationalitätsbereiche gelegen sind.
Den Uebergang zur Algebra und Functionentheorie möge das folgende wichtige Problem bilden.
Von Kronecker rührt der Satz her, daß jeder Abelsche Zahlkörper im Bereich der rationalen Zahlen durch Zusammensetzung aus Körpern von Einheitswurzeln entsteht. Dieser fundamentale Satz aus der Theorie der ganzzahligen Gleichungen enthält zwei Aussagen, nämlich
erstens wird durch denselben die Frage nach der Anzahl und Existenz derjenigen Gleichungen beantwortet, die einen vorgeschriebenen Grad, eine vorgeschriebene Abelsche Gruppe und eine vorgeschriebene Diskriminante in Bezug auf den Bereich der rationalen Zahlen besitzen, und
zweitens wird behauptet, daß die Wurzeln solcher Gleichungen einen Bereich algebraischer Zahlen bilden, der genau mit demjenigen Bereiche übereinstimmt, den man erhält, wenn man in der Exponentialfunction für das Argument z der Reihe nach alle rationalen Zahlenwerte einträgt.
Die erste Aussage betrifft die Frage der Bestimmung gewisser algebraischer Zahlen durch ihre Gruppe und ihre Verzweigung; diese Frage entspricht also dem bekannten Problem der Bestimmung algebraischer Funetionen zu gegebener Riemannscher Fläche. Die zweite Aussage liefert die verlangten Zahlen durch ein transcendentes Mittel, nämlich durch die Exponentialfunction .
Da nächst dem Bereiche der rationalen Zahlen der Bereich der imaginären quadratischen Zahlkörper der einfachste ist, so entsteht die Aufgabe, den Kroneckerschen Satz auf diesen Fall auszudehnen. Kronecker selbst hat die Behauptung ausgesprochen, daß die Abelschen Gleichungen im Bereiche eines quadratischen Körpers durch die Transformationsgleichungen der elliptischen Functionen mit singulären Moduln gegeben werden, so daß hiernach die elliptische Function die Rolle der Exponentialfunction im vorigen Falle übernimmt. Der Beweis der Kroneckerschen Vermutung ist bisher nicht erbracht worden; doch glaube, ich, daß derselbe auf Grund der von H. Weber entwickelten Theorie der complexen Multiplikation unter Hinzuziehung der von mir aufgestellten rein arithmetischen Sätze über Klassenkörper ohne erhebliche Schwierigkeiten gelingen muß.
Von der höchsten Bedeutung endlich erscheint mir die Ausdehnung des Kroneckerschen Satzes auf den Fall, daß an Stelle des Bereichs der rationalen Zahlen oder des imaginären quadratischen Zahlenbereiches ein beliebiger algebraischer Zahlkörper als Rationalitätsbereich zu Grunde gelegt wird; ich halte dies Problem für eines der tiefgehendsten und weittragendsten Probleme der Zahlen- und Functionentheorie.
Das Problem erweist sich von mannigfachen Seiten aus als zugänglich. Den wichtigsten Schlüssel zur Lösung des arithmetischen Teils dieses Problemes erblicke ich in dem allgemeinen Reciprocitätsgesetze der l ten Potenzreste innerhalb eines beliebig vorgelegten Zahlkörpers. Was den functionentheoretischen Teil des Problems betrifft, so wird sich der Forscher auf diesem so anziehenden Gebiete durch die merkwürdigen Analogieen leiten lassen, die zwischen der Theorie der algebraischen Functionen einer Veränderlichen und der Theorie der algebraischen Zahlen bemerkbar sind. Das Analogon zur Potenzreihenentwickelung einer algebraischen Function in der Theorie der algebraischen Zahlen hat Hensel {Elliptische Functionen und algebraische Zahlen, Braunschweig 1891} aufgestellt und untersucht und das Analogon für den Riemann-Rochschen Satz hat Landsberg {Jahresberichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung VI, sowie eine demnächst in den Mathematischen Annalen erscheinende Arbeit: Ueber die Entwickelung der algebraischen Zahlen in Potenzreihen} behandelt. Auch die Analogie zwischen dem Begriff des Geschlechts einer Riemannschen Fläche und dem Begriff der Klassenanzahl eines Zahlkörpers fällt ins Auge. Betrachten wir, um nur den einfachsten Fall zu berühren, eine Riemannsche Fläche vom Geschlecht p = 1 und andrerseits einen Zahlkörper von der Klassenanzahl h = 2, so entspricht dem Nachweise der Existenz eines überall endlichen Integrals auf der Riemannschen Fläche der Nachweis der Existenz einer ganzen Zahl a im Zahlkörper, die von solcher Art ist, daß die Zahl einen relativ unverzweigten quadratischen Körper in Bezug auf den Grundkörper darstellt. In der Theorie der algebraischen Functionen dient bekanntlich zum Nachweise jenes Riemannschen Existenzsatzes die Methode der Randwertaufgabe; auch in der Theorie der Zahlkörper bietet der Nachweis der Existenz jener Zahl a gerade die meiste Schwierigkeit. Dieser Nachweis gelingt mit wesentlicher Hülfe des Satzes, daß es im Zahlkörper stets Primideale mit vorgeschriebenen Restcharakteren giebt; die letztere Thatsache ist also das zahlentheoretische Analogon zum Randwertproblem.
Die Gleichung des Abelschen Theorems in der Theorie der algebraischen Functionen sagt bekanntlich die notwendige und hinreichende Bedingung dafür aus, daß die betreffenden Punkte der Riemannschen Fläche die Nullstellen einer algebraischen zur Fläche gehörigen Function sind; (das genaue Analogon des Abelschen Theorems ist in der Theorie des Zahlkörpers von der Klassenanzahl h = 2 die Gleichung des quadratischen Reciprocitätsgesetzes {Vgl. Hilbert, Ueber die Theorie der relativ-Abelschen Zahlkörper, Nachrichten der K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen 1898}
welche aussagt, daß das Ideal j dann und nur dann ein Hauptideal des Zahlkörpers ist, wenn jene Zahl a in Bezug auf das Ideal j einen positiven quadratischen Restcharakter besitzt.
Wie wir sehen, treten in dem eben gekennzeichneten Problem die drei grundlegenden Disciplinen der Mathematik, nämlich Zahlentheorie, Algebra und Functionentheorie in die innigste gegenseitige Berührung und ich bin sicher, daß insbesondere die Theorie der analytischen Functionen mehrerer Variabelen eine wesentliche Bereicherung erfahren würcle, wenn es gelänge, diejenigen Functione aufzufinden und zu diskutieren, die für einen beliebigen algebraischen Zahlkörper die entsprechende Rolle spielen, wie die Exponentialfuntion für den Körper der rationalen Zahlen und die elliptische Modulfunction für den imaginären quadratischen Zahlkörper.
Wir kommen nun zur Algebra; ich nenne im Folgenden ein Problem aus der Gleichungstheorie und eines, auf welches mich die Theorie der algebraischen Invarianten geführt hat.
Die Nomographie {M. d'Ocagne, Traité de Nomographie, Paris 1899} hat die Aufgabe Gleichungen mittelst gezeichneter Curvenschaaren zu lösen, die von einem willkürlichen Parameter abhängen. Man sieht sofort, daß jede Wurzel einer Gleichung, deren Coefficienten nur von zwei Parametern abhängen, d. h. jede Function von zwei unabhängigen Veränderlichen auf mannigfache Weise durch das der Nomographie zu Grunde liegende Princip darstellbar ist. Ferner sind durch dieses Princip offenbar auch eine große Klasse von Functionen von drei und mehr Veränderlichen darstellbar, nämlich alle diejenigen Functionen, die man dadurch erzeugen kann, daß man zunächst eine Function von zwei Argumenten bildet, dann jedes dieser Argumente wieder gleich Functionen von zwei Argumenten einsetzt, an deren Stelle wiederum Functionen von zwei Argumenten treten u. s. f., wobei eine beliebige endliche Anzahl von Einschachtelungen der Functionen zweier Argumente gestattet ist. So gehört beispielsweise jede rationale Function von beliebig vielen Argumenten zur Klasse dieser durch nomographische Tafeln construirbaren Functionen; denn sie kann durch die Prozesse der Addition, Subtraction, Multiplikation und Division erzeugt werden, und jeder dieser Prozesse repräsentirt eine Function von nur zwei Argumenten. Man sieht leicht ein, daß auch die Wurzeln aller Gleichungen, die in einem natürlichen Rationalitätsbereiche durch Wurzelziehen auflösbar sind, zu der genannten Klasse von Functionen gehören; denn hier kommt zu den vier elementaren Rechnungsoperationen nur noch der Prozeß des Wurzelziehens hinzu, der ja lediglich eine Function eines Argumentes repräsentirt. Desgleichen sind die allgemeinen Gleichungen 5ten und 6ten Grades durch geeignete nomographische Tafeln auflösbar; denn diese können durch solche Tschirnhausentransformationen, die ihrerseits nur Ausziehen von Wurzeln verlangen, in eine Form gebracht werden, deren Coefficienten nur von zwei Parametern abhängig sind.
Wahrscheinlich ist nun die Wurzel der Gleichung 7ten Grades eine solche Function ihrer Coefficienten, die nicht zu der genannten Klasse nomographisch construirbarer Functionen gehört, d. h. die sich nicht durch eine endliche Anzahl von Einschachtelungen von Functionen zweier Argumente erzeugen läßt. Um dieses einzusehen, wäre der Nachweis dafür nötig, daß die Gleichung 7ten Grades
nicht, mit Hülfe beliebiger stetiger Functionen von nur zwei Argumenten lösbar ist. Daß es überhaupt analytische Functionen von drei Argumenten x,y, z giebt, die nicht durch endlich-malige Verkettung von Functionen von nur zwei Argumenten erhalten werden können, davon habe ich mich, wie ich noch bemerken möchte, durch eine strenge Ueberlegung überzeugt.
In der Theorie der algebraischen Invarianten verdienen, wie mir scheint, die Fragen nach der Endlichkeit voller Formensysteme ein besonderes Interesse. Es ist neuerdings L. Maurer {Vgl. Sitzungsberichte der K. Akademie der Wiss. zu München 1899 und eine demnächst in den mathematischen Annalen erscheinende Arbeit} gelungen, die von P. Gordan und mir bewiesenen Endlichkeitssätze der Invariantentheorie auf den Fall auszudehnen, daß nicht, wie in der gewöhnlichen Invariantentheorie, die allgemeine projektive Gruppe, sondern eine beliebige Untergruppe der Definition der Invarianten zu Grunde gelegt wird.
Die Beschäftigung mit der Frage nach der Endlichkeit der Invarianten hat mich auf ein einfaches Problem geführt, welches jene Frage nach der Endlichkeit der Invarianten als besonderen Fall in sich enthält, und zu dessen Lösung wahrscheinlich eine erheblich feinere Ausbildung der Theorie der Elimination und der Kroneckerschen algebraischen Modulsysteme nötig ist, als sie bisher gelungen ist.
Es seien eine Anzahl m von ganzen rationalen Functionen der n Variabeln x1,x2,...,xn vorgelegt:
(S)           | X1 = f1(x1,...,xn) |
---|---|
X2 = f2(x1,...,xn) | |
. . . . . . . | |
Xm = fm(x1,...,xn) |
Jede ganze rationale Verbindung von X1,X2,...,Xm wird offenbar durch Eintragung dieser Ausdrücke notwendig stets eine ganze rationale Function von x1,x2,...,xn. Es kann jedoch sehr wohl gebrochene rationale Functionen von X1,X2,...,Xm geben, die nach Ausführung jener Substitution (S) zu ganzen Functionen in x1,x2,...,xn werden. Eine jede solche rationale Function von X1,X2,...,Xm, die nach Ausführung der Substitution (S) ganz in x1,x2,...,xn wird, möchte ich eine relativganze Function von X1,X2,...,Xm nennen. Jede ganze Function von X1,X2,...,Xm ist offenbar auch relativganz; ferner ist die Summe, die Differenz und das Product relativganzer Functionen stets wiederum relativganz.
Das entstehende Problem ist nun zu entscheiden, ob,es stets möglich ist, ein endliches System von relativganzen Functionen von X1,X2,...,Xm aufzufinden, durch die sich jede andere relativganze Function von X1,X2,...,Xm in ganzer rationaler Weise zusammensetzen läßt. Wir können das Problem noch einfacher formuliren, wenn wir den Begriff des endlichen Integritätsbereiches einführen. Unter einem endlichen Integritätsbereiche möchte ich ein solches System von Functionen verstehen, aus welchem sich eine endliche Anzahl von Functionen auswählen läßt, mit deren Hilfe alle übrigen Functionen des Systems in ganzer rationaler Weise ausdrückbar sind. Unser Problem läuft dann darauf hinaus, zu zeigen, daß die sämtlichen relativganzen Functionen eines beliebigen Rationalitätsbereiches stets einen endlichen Integritätsbereich bilden.
Es liegt auch nahe, das Problem zahlentheoretisch zu verfeinern, indem man die Coefficienten der gegebenen Functionen f1,f2,...,fm als ganze rationale Zahlen annimmt und unter den relativganzen Functionen von X1,X2,...,Xm nur solche rationalen Functionen dieser Argumente versteht, die nach Ausführung jener Substitution (S) ganze rationale Functionen von x1,x2,...,xn mit ganzen rationalen Coefficienten werden.
Ein besonderer einfacher Fall dieses verfeinerten Problems ist der folgende: Gegeben seien m ganze rationale Functionen X1,X2,...,Xm der einen Veränderlichen x mit ganzen rationalen Coefficienten und ferner eine Primzahl p. Man betrachte das System derjenigen ganzen rationalen Functionen von x, welche sich in der Gestalt
darstellen lassen, wo G eine ganze rationale Function der Argumente X1,X2,...,Xm und ph irgend eine Potenz der Primzahl p ist. Frühere Untersuchungen von mir {Mathematische Annalen, Bd. 36 S. 485} zeigen dann unmittelbar, daß alle solchen Ausdrücke bei bestimmtem Exponenten h einen endlichen Integritätsbereich bilden; die Frage ist aber hier, ob das Gleiche auch für alle Exponenten h zugleich gilt, d.h. ob sich eine endliche Anzahl von solchen Ausdrücken auswählen läßt, durch die jeder andere Ausdruck von jener Gestalt für irgend einen Exponenten h ganz und rational darstellbar ist.
Aus den Grenzgebieten zwischen Algebra und Geometrie möchte ich zwei Probleme nennen: das eine betrifft den geometrischen Abzählungskalkül und das zweite die Topologie algebraischer Curven und Flächen.
Das Problem besteht darin, diejenigen geometrischen Anzahlen strenge und unter genauer Feststellung der Grenzen ihrer Gültigkeit zu beweisen, die insbesondere Schubert {Kalkül der abzählenden Geometrie. Leipzig 1879} auf Grund des sogenannten Princips der speciellen Lage mittelst des von ihm ausgebildeten Abzählungskalküls bestimmt hat. Wenn auch die heutige Algebra die Durchführbarkeit der Eliminationsprocesse im Princip gewährleistet, so ist zum Beweise der Sätze der abzählenden Geometrie erheblich mehr erforderlich, nämlich die Durchführung der Elimination bei besonders geformten Gleichungen in der Weise, daß der Grad der Endgleichungen und die Vielfachheit ihrer Lösungen sich voraussehen läßt.
Die Maximalzahl der geschlossenen und getrennt liegenden Züge, welche eine ebene algebraische Curve n~ter Ordnung haben kann, ist von Harnack {Mathematische Annalen, Bd. 10} bestimmt worden; es entsteht die weitere Frage nach der gegenseitigen Lage der Curvenzüge in der Ebene. Was die Curven 6ter Ordnung angeht, so habe ich mich - freilich auf einem recht umständlichen Wege - davon überzeugt, daß die 11 Züge, die sie nach Harnack haben kann, keinesfalls sämtlich außerhalb von einander verlaufen dürfen, sondern daß ein Zug existiren muß, in dessen Innerem ein Zug und in dessen Aeußerem neun Züge verlaufen oder umgekehrt. Eine gründliche Untersuchung der gegenseitigen Lage bei der Maximalzahl von getrennten Zügen scheint mir ebenso sehr von Interesse zu sein, wie die entsprechende Untersuchung über die Anzahl, Gestalt und Lage der Mäntel einer algebraischen Fläche im Raume - ist doch bisher noch nicht einmal bekannt, wieviel Mäntel eine Fläche 4ter Ordnung des dreidimensionalen Raumes im Maximum wirklich besitzt. {Vgl. Rohn, Flächen vierter Ordnung, Preisschriften der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft, Leipzig 1886}
Im Anschluß an dieses rein algebraische Problem möchte ich eine Frage aufwerfen die sich, wie mir scheint, mittelst der nämlichen Methode der continuirlichen Coefficientenänderung in Angriff nehmen läßt, und deren Beantwortung für die Topologie der durch Differentialgleichungen definirten Curvenschaaren von entsprechender Bedeutung ist - nämlich die Frage nach der Maximalzahl und Lage der Poincaréschen Grenzcykeln (cycles limites) für eine Differentialgleichung erster Ordnung und ersten Grades von der Form:
wo X, Y ganze rationale Funktionen nten Grades in x, y sind, oder in homogener Schreibweise
wo X, Y, Z ganze rationale homogene Functionen nten Grades von x, y, z bedeuten und diese als Funktionen des Parameters t zu bestimmen sind.
Definit heißt eine solche ganze rationale Funktion oder Form beliebig vieler Veränderlichen mit reellen Coefficienten, die für keine reellen Werte dieser Veränderlichen negativ ausfällt. Das System aller definiten Funktionen verhält sich invariant gegenüber den Operationen der Addition und der Multiplikation; aber auch der Quotient zweier definiten Funktionen ist - sofern er eine ganze Funktion der Veränderlichen wird - eine definite Form. Das Quadrat einer jeden beliebigen Form ist offenbar stets eine definite Form; da aber, wie ich gezeigt habe {Mathematische Annalen Bd. 82}, nicht jede definite Form durch Addition aus Formenquadraten zusammengesetzt werden kann, so entsteht die Frage - die ich für den Fall ternärer Formen in bejahendem Sinne entschieden habe {Acta mathematica Bd. 17} -, ob nicht jede definite Form als Quotient von Summen von Formenquadraten dargestellt werden kann. Zugleich ist es für gewisse Fragen hinsichtlich der Möglichkeit gewisser geometrischer Konstruktionen wünschenswert, zu wissen, ob die Coefficienten der bei der Darstellung zu verwendenden Formen stets in demjenigen Rationalitätsbereiche angenommen werden dürfen, der durch die Coefficienten der dargestellten Form gegeben ist {Hilbert, Grundlagen der Geornetrie, Leipzig 1899, Kap. VII, insbesondere § 38}.
Ich nenne noch eine geometrische Aufgabe.
Wenn man nach denjenigen Gruppen von Bewegungen in der Ebene fragt, für die ein Fundamentalbereich existirt, so fällt bekanntlich die Antwort sehr verschieden aus, je nachdem die betrachtete Ebene die Riemannsche (elliptische), Euklidische oder Lobatschefskiysche (hyperbolische) ist. Im Falle der elliptischen Ebene giebt es eine endliche Anzahl wesentlich verschiedener Arten von Fundamentalbereichen und es reicht eine endliche Anzahl von Exemplaren congruenter Bereiche zur lückenlosen Ueberdeckung der ganzen Ebene aus: die Gruppe besteht eben nur aus einer endlichen Anzahl von Bewegungen. Im Falle der hyperbolischen Ebene giebt es eine unendliche Anzahl wesentlich verschiedener Arten von Fundamentalbereichen, nämlich die bekannten Poincaréschen Polygone; zur lückenlosen Ueberdeckung der Ebene ist eine unendliche Anzahl von Exemplaren congruenter Bereiche notwendig. Der Fall der Euklidischen Ebene steht in der Mitte; denn in diesem Falle giebt es nur eine endliche Anzahl von wesentlich verschiedenen Arten von Bewegungsgruppen mit Fundamentalbereich; aber zur lückenlosen Ueberdeckung der ganzen Ebene ist eine unendliche Anzahl von Exemplaren congruenter Bereiche notwendig.
Genau die entsprechenden Thatsachen gelten auch im dreidimensionalen Raume. Die Thatsache der Endlichkeit der Bewegungsgruppen im elliptischen Raume ist eine unmittelbare Folge eines fundamentalen Satzes von C. Jordan {Journal für Mathematik, Bd. 84 (1878) und Atti della Reale Accademia di Napoli 1880}, wonach die Anzahl der wesentlich verschiedenen Arten von endlichen Gruppen linearer Substitutionen mit n Veränderlichen eine gewisse endliche, von n abhängige Grenze nicht überschreitet. Die Bewegungsgruppen mit Fundamentalbereich im hyperbolischen Raume sind von Fricke und Klein in den Vorlesungen über die Theorie der automorphen Funktionen {Leipzig 1897. Vgl, insbesondere Abschnitt I, Kap. 2-3} untersucht worden und endlich haben Fedorow {Symmetrie der regelmäßigen Systeme von Figuren 1890}, Schoenflies {Krystallsysteme und Krystallstructur, Leipzig 1891,} und neuerdings Rohn {Mathematische Annalen Bd. 53} den Beweis dafür erbracht, daß es im Euklidischen Raume nur eine endliche Zahl wesentlich verschiedener Arten von Bewegungsgruppen mit Fundamentalbereich giebt. Während nun die den elliptischen und hyperbolischen Raum betreffenden Resultate und Beweismethoden unmittelbar auch für den n-dimensionalen Raum Geltung haben, so scheint die Verallgemeinerung des den Euklidischen Raum betreffenden Satzes erhebliche Schwierigkeiten zu bieten und es ist daher die Untersuchung der Frage wünschenswert, ob es auch im n-dimensionalen Euklidischen Raume nur eine endliche Anzahl wesentlich verschiedener Arten von Bewegungsgruppen mit Fundamentalbereich giebt.
Ein Fundamentalbereich einer jeden Bewegungsgruppe zusammen mit den congruenten aus der Gruppe entspringenden Bereichen liefert offenbar eine lückenlose Ueberdeckung des Raumes. Es erhebt sich die Frage, ob ferner auch solche Polyeder existiren, die nicht als Fundamentalbereiche von Bewegungsgruppen auftreten und mittelst derer dennoch durch geeignete Aneinanderlagerung congruenter Exemplare eine lückenlose Erfüllung des ganzen Raumes möglich ist. Ich weise auf die hiermit in Zusammenhang stehende, für die Zahlentheorie wichtige und vielleicht auch der Physik und Chemie einmal Nutzen bringende Frage hin, wie man unendlich viele Körper von der gleichen vorgeschriebenen Gestalt, etwa Kugeln mit gegebenem Radius oder reguläre Tetraeter mit gegebener Kante (bez. in vorgeschriebener Stellung) im Raume am dichtesten einbetten, d.h. so lagern kann, daß das Verhältnis des erfüllten Raumes zum nichterfüllten Raume möglichst groß ausfällt.
Ueberblicken wir die Entwickelung der Theorie der Functionen im letzten Jahrhundert, so bemerken wir vor Allem die fundamentale Rolle derjenigen Klasse von Functionen, die wir heute als analytische Functionen bezeichnen - eine Klasse von Functionen, die wohl dauernd im Mittelpunkt des mathematischen Interesses stehen wird.
Wir könnten nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten aus der Fülle aller denkbaren Functionen umfassende Klassen herausheben, die einer besonders eingehenden Untersuchung würdig sind. Betrachten wir beispielsweise die Klasse derjenigen Functionen, die sich durch gewöhnliche oder partielle algebraische Differentialgleichungen charakterisiren lassen. In dieser Klasse von Functionen kommen, wie wir sofort bemerken, gerade solche Functionen nicht vor, die aus der Zahlentheorie stammen und deren Erforschung für uns von höchsten Wichtigkeit ist. Beispielsweise genügt die schon früher erwähnte Function zeta(s) keiner algebraischen Differentialgleichung, wie man leicht mit Hülfe der bekannten Relation zwischen zeta(s) und zeta(1-s) erkennen kann, wenn man den von Hölder {Mathematische Annalen, Bd. 28,} bewiesenen Satz benutzt, daß die Function Gamma(x) keine algebraische Differentialgleichung befriedigt. Ferner genügt die durch die unendliche Reihe
definirte Function der beiden Veränderlichen s und x, die mit jener Function zeta(s) in enger Beziehung steht, wahrscheinlich keiner partiellen algebraischen Differentialgleichung; bei der Untersuchung dieser Frage wird man die Functionalgleichung zu benutzen haben:
Wenn wir andrerseits, was aus arithmetischen und geometrischen Gründen nahe liegt, die Klasse aller derjenigen Functionen betrachten, welche stetig und unbegrenzt differenzirbar sind, so würden wir bei deren Untersuchung auf das gefügige Werkzeug der Potenzreihe und auf den Umstand verzichten müssen, daß die Function durch die Wertezuordnung in jedem beliebig kleinen Gebiet völlig bestimmt ist. Während also die vorige Abgrenzung des Functionsgebietes zu, eng war, erscheint uns diese als zu weit.
Der Begriff der analytischen Function dagegen nimmt in sich den ganzen Reichtum der für die Wissenschaft wichtigsten Functionen auf, mögen sie aus der Zahlentheorie, aus der Theorie der Differentialgleichungen oder der algebraischen Functionalgleichungen, mögen sie aus der Geometrie oder der mathematischen Physik stammen; und so führt mit Recht die analytische Function im Reiche der Functionen die unbedingte Herrschaft.
Eine der begrifflich merkwürdigsten Thatsachen in den Elementen der Theorie der analytischen Functionen erblicke ich darin, daß es partielle Differentialgleichungen giebt, deren Integrale sämtlich notwendig analytische Functionen der unabhängigen Variabeln sind, die also, kurz gesagt, nur analytischer Lösungen fähig sind. Die bekanntesten partiellen Differentialgleichungen dieser Art sind die Potentialgleichung
und gewisse von Picard {Journal de l'école Polytechnique 1890} untersuchte lineare Differentialgleichungen, ferner die Differentialgleichung
die partielle Differentialgleichung der Minimalfläche und andere. Die Mehrzahl dieser partiellen Differentialgleichungen haben als Merkmal miteinander gemein, daß sie die Lagrangeschen Differentialgleichungen gewisser Variationsprobleme sind und zwar solcher Variationsprobleme
bei denen für alle in Frage kommenden Argumente die Ungleichung
gilt, während F selbst eine analytische Function ist. Wir wollen ein solches Variationsproblem ein reguläres Variationsproblem nennen. Die regulären Variationsprobleme sind es vornehmlich, die in der Geometrie, Mechanik und mathematischen Physik eine Rolle spielen, und es liegt die Frage nahe, ob alle Lösungen regulärer Variationsprobleme stets notwendig analytische Functionen sein müssen, d. h. ob jene Lagrangesche partielle Differentialgleichung eines regulären Variationsproblems die Eigenschaft hat, da,ß sie nur analytische Integrale zuläßt - selbst wenn man, wie bei dem Dirichletschen Potentialprobleme, der Function irgend welche stetige, aber nicht analytische Randwerte aufzwingt.
Ich bemerke noch, daß, es beispielsweise Flächen von negativer constanter Gaussscher Krümmung giebt, die durch stetige und fortgesetzt differenzirbare, aber nicht analytische Functionen dargestellt werden, während wahrscheinlich jede Fläch e von positiver constanter Gaussscher Krümmung stets notwendig eine analytische Fläche sein muß. Bekanntlich stehen ja auch die Flächen positiver constanter Krüummung in engster Verbindung mit dem regulären Variationsproblem, durch eine geschlossene Raumcurve eine Fläche kleinsten Flächeninhaltes zu legen, die mit einer festen Fläche durch die nämliche Raumcurve ein gegebenes Volumen abschließt.
Ein wichtiges Problem, welches mit dem eben genannten in engem Zusammenhange steht, ist die Frage nach der Existenz von Lösungen von partiellen Differentialgleichungen mit vorgeschriebenen Randwerten. Die scharfsinnigen Methoden von H.A.Schwarz, C. Neumann und Poincaré haben dieses Problem für die Differentialgleichung des Potentials im Wesentlichen gelöst, doch erscheinen diese Methoden im Allgemeinen nicht unmittelbar der Ausdehnung fähig auf den Fall, in dem am Rande die Differentialquotienten oder Beziehungen zwischen diesen und den Werten der Function vorgeschrieben sind, oder wenn es sich nicht um Potentialflächen handelt, sondern etwa nach Flächen kleinsten Flächeninhalts oder nach Flächen mit constanter positiver Gaussscher Krümmung gefragt wird, die durch eine vorgelegte Raumcurve hindurch laufen oder über eine gegebene Ringfläche zu spannen sind. Ich bin überzeugt, daß es möglich sein wird, diese Existenzbeweise durch einen allgemeinen Grundgedanken zu führen, auf den das Dirichletsche Princip hinweist und der uns dann vielleicht in den Stand setzen wird, der Frage näher zu treten, ob nicht jedes reguläre Variationsproblem eine Lösung besitzt, sobald hinsichtlich der gegebenen Grenzbedingungen gewisse Annahmen - etwa die Stetigkeit und stückweise öftere Differenziirbarkeit, der für die Randbedingungen maßgebenden Functionen - erfüllt sind und nötigenfalls der Begriff der Lösung eine sinngemäße Erweiterung erfährt. {Vgl. meinen Vortrag über das Dirichletsche Princip. Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung VIII 1900, S. 184.}
Aus der Theorie der linearen Diferentialgleichungen mit einer unabhängigen Veränderlichen z möchte ich auf ein wichtiges Problem hinweisen, welches wohl bereits Riemann im Sinne gehabt hat, und welches darin besteht, zu zeigen, daß es stets eine lineare Differentialgleichung der Fuchsschen Klasse mit gegebenen singulären Stellen und einer gegebenen Monodromiegruppe giebt. Die Aufgabe verlangt also die Auffindung von n Functionen der Variabeln z, die sich überall in der complexen z-Ebene regulär verhalten, außer etwa in den gegebenen singulären Stellen: in diesen dürfen sie nur von endlich hoher Ordnung unendlich werden und beim Umlauf der Variabeln z um dieselben erfahren sie die gegebenen linearen Substitutionen. Die Existenz solcher Differentialgleichungen ist durch Constantenzählung wahrscheinlich gemacht worden, doch gelang der strenge Beweis bisher nur in dem besonderen Falle, wo die Wurzeln der Fundamentalgleichungen der gegebenen Substitutionen sämtlich vom absoluten Betrage 1 sind. Diesen Beweis hat L. Schlesinger {Handbuch der Theorie der linearen Differentialgleichungen, Bd. 2, Teil 2 No. 366} auf Grund der Poincaréschen Theorie der Fuchsschen zeta-Functionen erbracht. Es würde offenbar die Theorie der linearen Diferentialgleichungen ein wesentlich abgeschlosseneres Bild zeigen, wenn die allgemeine Erledigung des bezeichneten Problems gelänge.
Wie Poincaré zuerst bewiesen hat, gelingt die Uniformisirung einer beliebigen algebraischen Beziehung zwischen zwei Variabeln stets durch automorphe Functionen einer Variabeln; d. h. wenn eine beliebige algebraische Gleichung zwischen zwei Variabeln vorgelegt ist, so lassen sich für dieselben stets solche eindeutigen automorphen Functionen einer Variabeln finden, nach deren Einsetzung die algebraische Gleichung identisch in dieser Variabeln erfüllt ist. Die Verallgemeinerung dieses fundamentalen Satzes auf nicht algebraische, sondern beliebige analytische Beziehungen zwischen zwei Variabeln hat Poincaré {Bulletin de la Société Mathématique de France XI. 1883} ebenfalls mit Erfolg in Angriff genommen und zwar auf einem völlig anderen Wege als derjenige war, der ihn bei dem anfangs genannten speciellen Probleme zum Ziele führte. Aus Poincarés Beweis für die Möglichkeit der Uniformisirung einer beliebigen analytischen Beziehung zwischen zwei Variabeln geht jedoch noch nicht hervor, ob es möglich ist, die eindeutigen Functionen der neuen Variabeln so zu wählen, daß, während diese Variabele das reguläre Gebiet jener Functionen durchläuft, auch wirklich die Gesamtheit aller regulären Stellen des vorgelegten, analytischen Gebildes zur Darstellung gelangt. Vielmehr scheinen in Poincarés Untersuchungen, abgesehen von den Verzweigungspunkten, noch gewisse andere im Allgemeinen unendlichviele diskrete Stellen vorgelegten analytischen Gebildes ausgenommen zu sein, zu denen man nur gelangt, indem man die neue Variable gewissen Grenzstellen der Functionen nähert. Eine Klärung und Lösung dieser Schwierigkeit scheint mir in Anbetracht der fundamentalen Bedeutung der Poincaréschen Fragestellung äußerst wünschenswert.
Im Anschluß an dieses Problem bietet sich das Problem der Uniformisirung einer algebraischen oder beliebigen analytischen Beziehung zwischen drei oder mehr complexen Veränderlichen - ein Problem, das bekanntlich in zahlreichen besonderen Fällen lösbar ist, und für welches die neueren Untersuchungen von Picard über algebraische Functionen von zwei Variabeln als willkommene und bedeutsame Vorarbeiten in Anspruch zu nehmen sind.
Bisher habe ich im Allgemeinen möglichst bestimmte und specielle Probleme genannt, in der Erwägung, daß es gerade die bestimmten und speciellen Probleme sind, die uns am meisten anziehen und von denen oft der nachhaltigste Einfluß auf die Gesamtwissenschaft ausgeht. Dennoch möchte ich mit einem allgemeinen Probleme schließen, nämlich mit dem Hinweise auf eine Disciplin, die bereits mehrmals in meinem Vortrage Erwähnung fand - eine Disciplin, die trotz der erheblichen Förderung, die sie in neuerer Zeit durch Weierstrass erfahren hat, dennoch nicht die allgemeine Schätzung genießt, die ihr meiner Ansicht nach zukommt - ich meine die Variationsrechnung. {Lehrbücher sind: Moigno-Lindelöf ``Leçons du calcul des variations'', Paris 1861 und A. Kneser, ``Lehrbuch der Variationsrechnung'', Braunschweig 1900}
Die Variationsrechnung im weitesten Sinne ist die Lehre vom Variiren der Functionen und erscheint uns als solche wie eine denknotwendige Fortsetzung der Diferential- und Integralrechnung. So aufgefaßt, bilden beispielsweise die Poincaréschen Untersuchungen über das Dreikörperproblem ein Kapitel der Variationsrechnung, insofern darin Poincaré aus bekannten Bahncurven von gewisser Beschaffenheit durch das Princip des Variirens neue Bahncurven von ähnlicher Beschaffenheit ableitet.
Den am Anfange meines Vortrags gemachten allgemeinen Bemerkungen über Variationsrechnung füge ich hier eine kurze Begründung hinzu.
Das einfachste Problem der eigentlichen Variationsrechnung besteht bekanntlich darin, eine Funktion y der Veränderlichen x derart zu finden, daß das bestimmte Integral
einen Minimalwert erhält im Vergleich zu denjenigen Werten, die das Integral annimmt, wenn wir statt y andere Funktionen von x mit den nämlichen gegebenen Anfangs- und Endwerten in das bestimmte Integral einsetzen. Das Verschwinden der ersten Variation im üblichen Sinne
liefert für die gesuchte Funktion y die bekannte Differentialgleichung zweiter Ordnung
(1)
|
Um nun des Näheren die notwendigen und hinreichenden Kriterien für das Eintreten des verlangten Minimums zu untersuchen, betrachten wir das Integral
und fragen, wie darin p als Funktion von x, y zu nehmen ist, damit der Wert dieses Integrals J* von dem Integrationswege d. h. von der Wahl der Function y der Variabeln x unabhängig wird. Das Integral J* hat die Form
wo A und B nicht yx enthalten, und das Verschwinden der ersten Variation
in dem Sinne, den die neue Fragestellung erfordert, liefert die Gleichung
d.h. wir erhalten für die Funktion p der beiden Veränderlichen x, y die partielle Differentialgleichung erster Ordnung
Die gewöhnliche Diferentialgleichung zweiter Ordnung (1) und die eben gefundene partielle Differentialgleichung (1*) stehen zu einander in engster Beziehung. Diese Beziehung wird uns unmittelbar deutlich durch die folgende einfache Umformung:
delta J* | = Integralab{Fy delta y+Fpdelta p+(delta yx-delta p)Fp+(yx-p)delta Fp}dx |
= Integralab{{Fy delta y+delta yx+(yx-p)delta Fp}dx | |
= delta J + Integralab (yx-p) delta Fp dx . |
Wir entnehmen nämlich hieraus folgende Thatsachen: wenn wir uns irgend eine einfache Schaar von Integralcurven der gewöhnlichen Diferentialgleichung zweiter Ordnung (1) verschaffen und dann eine gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung
bilden, die diese Integralcurven ebenfalls als Lösungen zuläßt, so ist stets die Funktion p(x,y) ein Integral der partiellen Differentialgleichung erster Ordnung (1*); und umgekehrt, wenn p(x,y) irgend eine Lösung der partiellen Differentialgleichung erster Ordnung (1*) bedeutet, so sind die sämtlichen nicht singulären Integrale der gewöhnlichen Differentialgleichung erster Ordnung (2) zugleich Integrale der DifFerentialgleichung zweiter Ordnung (1); oder kurz ausgedrückt: wenn yx = p(x,y) eine Integralgleichung erster Ordnung der Differentialgleichung zweiter Ordnung (1) ist, so stellt p(x,y) ein Integral der partiellen Differentialgleichugg (1*) dar und umgekehrt; die Integralcurven der gewöhnlichen Differentialgleichung zweiter Ordnung (1) sind also zugleich die Charakteristiken der partiellen Differentialgleichnng erster Ordnung (1*).
In dem vorliegenden Falle finden wir das nämliche Resultat auch mittelst einer einfachen Rechnung; diese liefert uns nämlich die in Rede stehenden Differentialgleichungen (1) bez. (1*) in der Gestalt
(1) | yxx Fyxyx + yx Fyx y + Fyxx - Fy = 0 | |
bez. | ||
(1*) | (px + p py)Fpp + p Fpy + Fpx - Fy = 0 |
wo die unteren Indices in leichtverständlicher Schreibweise die partiellen Ableitungen nach x, y, p, yx bedeuten. Hieraus leuchtet die Richtigkeit der behaupteten Beziehung ein.
Die vorhin aufgestellte und soeben bewiesene enge Beziehung zwischen der gewöhnlichen Differentialgleichung zweiter Ordnung (1) und der partiellen Differentiaigleichung erster Ordnung (1*) ist, wie mir scheint, für die Variationsrechnung von grundlegender Bedeutung. Denn wegen der Unabhängigkeit des Integrales J* vom Integrationswege folgt nunmehr
wenn wir das Integral linker Hand auf irgend einem Wege y und das Integral rechter Hand auf einer Integralcurve Y der Differentialgleichung
genommen denken. Mit Hülfe der Gleichung (3) gelangen wir zu der Weierstrassschen Formel
wo E den von den 4 Argumenten yx, p, y, x abhängigen Weierstrassschen Ausdruck
bezeichnet. Da es hiernach lediglich darauf ankommt, die in Rede stehende Integralcurve y in der xy-Ebene auf eindeutige und stetige Weise mit Werten einer entsprechenden Integralfunktion p(x,y) zu umgeben, so führen die eben angedeuteten Entwickelungen unmittelbar - ohne Heranziehung der zweiten Variation sondern allein durch Anwendung des Polarenprocesses auf die Differentialgleichung (1) - zur Aufstellung der Jacobischen Bedingung und zur Beantwortung der Frage, inwiefern diese Jacobische Bedingung im Verein mit der Weierstrassschen Bedingung E > 0 für das Eintreten eines Minimums notwendig und hinreichend ist.
Die angedeuteten Entwickelungen, lassen sich ohne daß eine weitere Rechnung nötig, wäre, auf den Fall zweier oder mehr gesuchter Funktionen, sowie auf den Fall eines Doppel- oder mehrfachen Integrals übertragen. So liefert beispielsweise im Fall des über ein gegebenes Gebiet w erstreckenden Doppelintegrals
das im üblichen Sinne zu verstehende Verschwinden der ersten Variation
für die gesuchte Funktion z von x, y die bekannte Differentialgleichung zweiter Ordnung
Andererseits betrachten wir das Integral
und fragen, wie darin p und q als Funktionen von x, y, z zu nehmen sind, damit der Wert dieses Integrals von der Wahl der durch die gegebene geschlossene Raumcurve gelegten Fläche d. h. von der Wahl der Funktion z der Variabeln x, y unabhängig wird. Das Integral J* hat die Form
und das Verschwinden der ersten Variation
in dem Sinne, den die neue Fragestellung erfordert, liefert die Gleichung
d.h. wir erhalten für die Funktionen p und q der drei Variabeln x, y, z die Differentialgleichung erster Ordnung
Fügen wir zu dieser Differentialgleichung noch die aus den Gleichungen
resultirende partielle Differentialgleichung
hinzu, so stehen die partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung (I) für die Funktion z der zwei Veränderlichen x, y und das simultane System der zwei partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung (I*) für die zwei Funktionen p und q der drei Veränderlichen x, y, z zu einander genau in der analogen Beziehung, wie vorhin im Falle eines einfachen Integrals die Differentialgleichungen (1) und (1*).
Wegen der Unabhängigkeit des Integrals J* von der Wahl der Integrationsfläche z folgt:
wenn wir das Integral rechter Hand auf einer Integralfläche Z der partiellen Differentialgleichungen
genommen denken und mit Hülfe dieser Formel gelangen wir dann sofort zu der Formel
E(zx,zy,p,q) =F(zx,zy) - F(p,q) -(zx-p)Fp(p,q) - (zy-q)Fp(p,q),
die für die Variation der Doppelintegrale die nämliche Rolle spielt, wie die vorhin angegebene Formel (4) für die einfachen Integrale und mit deren Hülfe wir wiederum die Frage beantworten können, inwiefern die Jacobische Bedingung im Verein mit der Weierstrassschen Bedingung E > 0 für das Eintreten eines Minimums notwendig und hinreichend ist.
Aber - so fragen wir - wird es bei der Ausdehnung des mathematischen Wissens für den einzelnen Forscher nicht schließlich unmöglich, alle Teile dieses Wissens zu umfassen? Ich möchte als Antwort darauf hinweisen, wie sehr es im Wesen der mathematischen Wissenschaft liegt, daß jeder wirkliche Fortschritt stets Hand in Hand geht mit der Auffindung schärferer Hülfsmittel und einfacherer Methoden, die zugleich das Verständnis früherer Theorieen erleichtern und umständliche ältere Entwickelungen beseitigen und daß es daher dem einzelnen Forscher, indem er sich diese schärferen Hülfsmittel und einfacheren Methoden zu eigen macht, leichter gelingt, sich in den verschiedenen Wissenszweigen der Mathematik zu orientiren als dies für irgend eine andere Wissenschaft der Fall ist. Der einheitliche Charakter der Mathematik liegt im inneren Wesen dieser Wissenschaft begründet; denn die Mathematik ist die Grundlage alles exacten naturwissenschaftlichen Erkennens. Damit sie diese hohe Bestimmung vollkommen erfülle, mögen ihr im neuen Jahrhundert geniale Meister erstehen und zahlreiche in edlem Eifer erglühende Jünger!
Hilbert's Problems, English.
Hilberts Probleme, deutsch.
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