6. Mathematische Behandlung der Axiome der Physik. (David Hilbert)

Durch die Untersuchungen über die Grundlagen der Geometrie wird uns die Aufgabe nahegelegt, nach diesem Vorbilde diejenigen physikalischen Disciplinen axiomatisch zu behandeln, in denen schon heute die Mathematik eine hervorragende Rolle spielt; dies sind in erster Linie die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Mechanik.

Was die Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Vgl. Bohlmann, Ueber Versicherungsmathematik 2te Vorlesung aus Klein und Riecke, Ueber angewandte Mathematik und Physik, Leipzig und Berlin 1900) angeht, so scheint es mir wünschenswert, daß mit der logischen Untersuchung derselben zugleich eine strenge und befriedigende Entwickelung der Methode der mittleren Werte in der mathematischen Physik, speciell in der kinetischen Gastheorie Hand in Hand gehe.

Ueber die Grundlagen der Mechanik liegen von physikalischer Seite bedeutende Untersuchungen vor; ich weise hin auf die Schriften von Mach, (Die Mechanik in ihrer Entwickelung, Leipzig, zweite Auflage. Leipzig 1889) Hertz (Die Principien der Mechanik, Leipzig 1894) Boltzmann, (Vorlesungen über die Principien der Mechanik, Leipzig 1897) und Volkmann; (Einführung in das Studium der theoretischen Physik, Leipzig 1900) es ist daher sehr wünschenswert, wenn auch von den Mathematikern die Erörterung der Grundlagen der Mechanik aufgenommen würde. So regt uns beispielsweise das Boltzmannsche Buch über die Principe der Mechanik an, die dort angedeuteten Grrenzprocesse, die von der atomistischen Auffassung zu den Gesetzen über die Beweung der Continua führen, streng mathematisch zu begründen und durchzuführen. Umgekehrt könnte man die Bewegung über die Gesetze starrer Körper durch Grenzprocesse aus einem System von Axiomen abzuleiten suchen, die auf der Vorstellung von stetig veränderlichen, durch Parameter zu definirenden Zuständen eines den ganzen Raum stetig erfüllenden Stoffes beruhen - ist doch die Frage nach der Gleichberechtigung verschiedener Axiomensysteme stets von hohem principiellen Interesse.

Soll das Vorbild der Geometrie für die Behandlung der physikalischen Axiome maßgebend sein, so werden wir versuchen, zunächst durch eine geringe Anzahl von Axiomen eine möglichst allgemeine Klasse physikalischer Vorgänge zu umfassen und dann durch Adjunktion neuer Axiome der Reihe nach zu den specielleren Theorieen zu gelangen - wobei vielleicht ein Einteilungsprincip aus der so tiefsinnigen Theorie der unendlichen Transformationsgruppen von Lie entnommen werden kann. Auch wird der Mathematiker, wie er es in der Geometrie gethan hat, nicht bloß die der Wirklichkeit nahe kommenden, sondern überhaupt alle logisch möglichen Theorien zu berücksichtigen haben und stets darauf bedacht sein, einen vollständigen Ueberblick über die Gesamtheit der Folgerungen zu gewinnen, die das gerade angenommene Axiomensystem nach sich zieht.

Ferner fällt dem Mathematiker in Ergänzung der physikalischen Betrachtungsweise die Aufgabe zu, jedes Mal genau zu prüfen, ob das neu adjungirte Axiom mit den früheren Axiomen nicht in Widerspruch steht. Der Physiker sieht sich oftmals durch die Ergebnisse seiner Experimente gezwungen, zwischendurch und während der Entwickelung seiner Theorie neue Annahmen zu machen, indem er sich betreffs der Widerspruchslosigkeit der neuen Annahmen mit den früheren Axiomen lediglich auf eben jene Experimente oder auf ein gewisses physikalisches Gefühl beruft - ein Verfahren, welches beim streng logischen Aufbau einer Theorie nicht statthaft ist. Der gewünschte Nachweis der Widerspruchslosigkeit aller gerade gemachten Annahmen erscheint mir auch deshalb von Wichtigkeit, weil das Bestreben, einen solchen Nachweis zu führen, uns stets am wirksamsten zu einer exakten Formulirung der Axiome selbst zwingt.


Wir haben bisher lediglich Fragen über die Grundlagen mathematischer Wissenszweige berücksichtigt. In der That ist die Beschäftigung mit den Grundlagen einerwissenschaft von besonderem Reiz und es wird die Prüfung dieser Grundlagen stets zu den vornehmsten Aufgaben des Forschers gehören. Das ``Endziel'' so hat Weierstrass einmal gesagt, ``welches man stets im Auge behalten muß, besteht darin, daß man über die Fundamente der Wissenschaft ein sicheres Urteil zu erlangen suche'' ... ``Um überhaupt in die Wissenschaften einzudringen, ist freilich die Beschäftigung mit einzelnen Problemen unerläßlich.'' In der That bedarf es zur erfolgreichen Behandlung der Grundlagen einer Wissenschaft des eindringenden Verständnisses ihrer speziellen Theorien; nur der Baumeister ist im Stande, die Fundamente für ein Gebäude sicher anzulegen, der die Bestimmung des Gebäudes selbst im Einzelnen gründlich kennt. So wenden wir uns nunmehr zu speciellen Problemen einzelner Wissenszweige der Mathematik und berücksichtigen dabei zunächst die Arithmetik und die Algebra.


Hilbert's Problems, English.   Hilberts Probleme, deutsch.


html Version © 2000 by Ina Kersten
kersten@mathematik.uni-bielefeld.de