5. Lies Begriff der continuirlichen Transformationsgruppe ohne die Annahme der Differenzirbarkeit der die Gruppe definirenden Functionen. (David Hilbert)

Lie hat bekanntlich mit Hinzuziehung des Begriffs der continuirlichen Transformationsgruppe ein System von Axiomen für die Geometrie aufgestellt und auf Grund seiner Theorie der Transformationsgruppen bewiesen, daß dieses System von Axiomen zum Aufbau der Geometrie hinreicht. Da Lie jedoch bei Begründung seiner Theorie stets annimmt, daß die die Gruppe definirenden Functionen differenzirt werden können, so bleibt in den Lieschen Entwickelungen unerörtert, ob die Annahme der Differenzirbarkeit bei der Frage nach den Axiomen der Geometrie thatsächlich unvermeidlich ist oder nicht vielmehr als eine Folge des Gruppenbegriffs und der übrigen geometrischen Axiome erscheint. Diese Ueberlegung, sowie auch gewisse Probleme hinsichtlich der arithmetischen Axiome legen uns die allgemeinere Frage nahe, in wieweit der Liesche Begriff der continuirlichen Transformationsgruppe auch ohne Annahme der Differenzirbarkeit der Functionen unserer Untersuchung zugänglich ist. Bekanntlich definirt Lie die endliche continuirliche Transformationsgruppe als ein System von Transformationen

xi' = fi(x1,...,xn ; a1,...,ar)   (i = 1,...,n)

von der Beschaffenheit, daß zwei beliebige Transformationen,

xi' = fi(x1,...,xn ; a1,...,ar)   und   xi'' = fi(x1',...,xn' ; b1,...,br)

des Systems nacheinander ausgeführt, eine Transformation ergeben, welche wiederum dem System angehört und sich mithin in der Form

xi'' = fi(f1(x,a),...,fn(x,a);b1,...,br) = fi(x1,...,xn ; c1,...,cr)

darstellen läßt, wo c1,...,cr gewisse Functionen von a1,...,ar ; b1,...,br sind. Die Gruppeneigenschaft findet mithin ihren Ausdruck in einem System von Functionalgleichungen und erfordert an sich für die Functionen f1,...,fn, c1,...,cr keinerlei nähere Beschränkung. Doch die weitere Behandlungsweise jener Functionalgleichungen nach Lie, nämlich die Ableitung der bekannten grundlegenden Differentialgleichungen, setzt notwendig die Stetigkeit und Differenzirbarkeit der die Gruppe definirenden Functionen voraus.

Was zunächst die Stetigkeit betrifft, so wird man gewiß an dieser Forderung zunächst festhalten - schon im Hinblick auf die geometrischen und arithmetischen Anwendungen, bei denen die Stetigkeit der in Frage kommenden Functionen als eine Folge des Stetigkeitsaxioms erscheint. Dagegen enthält die Differenzirbarkeit der die Gruppe definirenden Functionen eine Forderung, die sich in den geometrischen Axiomen nur auf recht gezwungene und complicirte Weise zum Ausdruck bringen läßt, und es entsteht mithin die Frage, ob nicht etwa durch Einführung geeigneter neuer Veränderlicher und Parameter die Gruppe stets in eine solche übergef ührt werden kann, für welche die definirenden Functionen differenzirbar sind, oder ob wenigstens unter Hinzufügung gewisser einfacher Annahmen eine Ueberführung in die der Lieschen Methode zugänglichen Gruppen möglich ist. Die Zurückführung auf analytische Gruppen ist nach einem von Lie (Lie-Engel, Theorie der Transformationsgruppen, Bd. 3, Leipzig 1893) aufgestellten und von Schur (Ueber den analytischen Charakter der eine endliche continuirliche Transformationsgruppe darstellenden Functionen. Mathematische Annalen, Bd. 41.) zuerst bewiesenen Satze stets dann möglich, sobald die Gruppe transitiv ist und die Existenz der ersten und gewisser zweiter Ableitungen der die Gruppe definirenden Functionen vorausgesetzt wird.

Auch für unendliche Gruppen ist, wie ich glaube, die Untersuchung entsprechenden Frage von Interesse. Ueberhaupt werden wir auf das weite und nicht uninteressante Feld der Functionalgleichungen geführt, die bisher meist nur unter der Voraussetzung der Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen untersucht worden sind. Insbesondere die von Abel (Werke, Bd. 1 S. 1, 61, 389.) mit so vielem Scharfsinn behandelten Functionalgleichungen, die Differenzengleichungen und andere in der Litteratur vorkommende Gleichungen weisen an sich nichts auf, was zur Forderung über Differenzirbarkeit der auftretenden Functionen zwingt, und bei gewissen Existenzbeweisen in der Variationsrechnung fiel mir direkt die Aufgabe zu, aus dem Bestehen einer Differenzengleichung die Differenzirbarkeit der betrachteten Function beweisen zu müssen. In allen diesen Fällen erhebt sich daher die Frage, inwieweit etwa die Aussagen, die wir im Falle der Annahme differenzirbarer Functionen machen können, unter geeigneten Modifikationen ohne diese Voraussetzung gültig sind.

Bemerkt sei noch, daß H. Minkowski in seiner vorhin genannten ``Geometrie der Zahlen'' von der Functionalungleichung

f(x1 + y1,...,xn + yn) <= f(x1,...,xn) + f(y1,...,yn)

ausgeht und aus dieser in der That die Existenz gewisser Differentialquotienten für die in Betracht kommenden Functionen zu beweisen vermag.

Andererseits hebe ich hervor, daß es sehr wohl analytische Functionalgleichungen giebt, deren einzige Lösungen nichtdifferenzirbare Functionen sind. Beispielsweise kann man eine eindeutige stetige nichtdifferenzirbare Function g(x) construiren, die die einzige Lösung zweier Functionalgleichungen

g(x+a) - g(x)= f(x)   und   g(x+b) - g(x)= 0

darstellt, wo a, b zwei reelle Zahlen und f(x) eine für alle reellen Werte von x reguläre analytische eindeutige Function bedeutet. Man gelangt am einfachsten zu solchen Functionen mit Hülfe trigonometrischer Reihen durch einen ähnlichen Gedanken, wie ihn Borel nach einer jüngsten Mitteilung von Picard (Quelques théories fondamentales dans l'analyse mathématique. Conférences faites à Clark-University. Revue générale des Sciences 1900. S. 22.) zur Construction einer doppelperiodischen nichtanalytischen Lösung einer gewissen analytischen partiellen Differentialgleichung benutzt hat.


Hilbert's Problems, English.   Hilberts Probleme, deutsch.


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